Es lüpft den Hut, sagt „Pardon!“ und „Auf ein Neues!“ – Eine gebrochene Lanze für das alte Jahr

Das alte Jahr verzieht sich wie ein Dieb, dabei hat es nicht nur genommen, sondern auch gegeben. Es lüpft den Hut, sagt „Pardon!“ und „Auf ein Neues!“. Dann ist es nur noch eine Qualmwolke, die sich schlanken Fußes aus dem Fenster windet.

Jahresrückblicke und Silvesterpartys stehen unter den Motti: „Stadt, Name Scheidungsservice“ (Radioeins Silvesterparty) und „Stundenhotel: Mach‘s mir von hinten!“ (Wischmeyer). Aber das Jahr 2022 hat nicht nur genommen (Zuversicht und Hoffnung, Frieden und ein gesundes Miteinander), sondern mir zumindest die Erkenntnis gegeben, dass nörgelt, wer immer nur wartet. Wartet, dass sich etwas bessert. Wartet, dass sich was tut.

Wir befassen uns mit dem Krieg in Europa, denken aber nur an die eigene Stromrechnung. Wir haben Rot-Grün und reden Schwarz-Weiß. Wir schätzen Meinungsfreiheit und canceln Widerworte. Wir hamstern, statt zu vögeln. Und bei alldem hoffen wir, dass sich die Welt zum Besseren wendet. Wie soll sie das machen, und… wer oder was ist sie, „die Welt“? Wir reden von ihr, als wäre sie der ungeliebte Nachbar, der sich die hundertste Tasse Mehl holt, obwohl er gar nicht backen kann.

Was ich „die Welt“ nenne, ist der Planet, und der scheißt schon lange auf uns (weil Stuhlgang eine außerordentlich befreiende Art der Selbstreinigung ist). Außerdem hat „die Welt“ ihre Naturgesetze, denen sich der Mensch nie vorgestellt hat, obwohl er Gast ist in ihrem Haus.

Die Welt – was auch immer wir dafür halten – schert sich nicht um unseren Ego-Aktivismus. Unsere Schlaffheit morgens vorm Badezimmerspiegel haben wir uns selbst zu verdanken. Das eigene Spiegelbild bietet keinen Photoshop. Shoppen kann ich hier nur den Blick in mein Gesicht, und das lächelt immer dann, wenn ich mir selbst noch in die Augen schauen kann.

Wäre das nicht ein irre guter Vorsatz für 2023, sich jeden Morgen selbst in die Augen schauen zu können?

Das Lächeln, das du bekommst, kannst du ohne Bildbearbeitung posten.

Euer

Spirit of Kasimir

Die Laufräder des Herrn Li

Internierungslager Nr. 5. Ketschendorf. Mai 1945 – Februar 1947

In Brandenburg galten schon gestern die Corona-Regeln, aber der Mann wollte unbedingt aufs Land zu einem Herrn Li aus China und dort zwei Laufräder AX Lightness Carbon abholen. Was will der Mann mit Laufrädern, dachte ich, wir haben keine so kleinen Kinder. Tatsächlich waren es Räder für´s Fahrrad Giant Advanced Carbon, die Herr Li ihm für 500 mitgeben würde, wo die doch mindestens 2000 wert wären. Wer in China der Diktatur und den Fledermausmärkten entflohen war, sollte doch in Deutschland nicht um 1500 Euro behunzt werden, dachte ich noch und sagte nichts, weil das immer besser war bei Sachen, von denen man (ich) schlichtweg keine Ahnung hatte.

Ich stieg aus dem Auto vor dem Haus des Herrn Li und schaute mich um, während der Mann nach oben zu seinem Laufräderdeal hastete. Weil ja nur eine Person eine andere aus einem Haushalt treffen durfte. Und soweit gehen der Mann und ich nicht, dass wir zusammenziehen, nur um Leute treffen zu können. Wartete ich halt auf der Straße. In fremden Gegenden konnte das interessant sein, und ich rauche ja gern und wars gewöhnt, auch in der Kälte.

In dieser fremden Gegend gabs nichts für mich zu sehen. Herr Li wohnte zwischen Lidl und Polizei an einer Bundesstraße mit einer Fußgängerampel. Also machte ich nichts als rauchen und warten und hoffen, dass sich da oben hinter den Masken kein genuscheltes Fachgespräch abspielen und schon aufgrund zahlloser „Wie bitte?“-Wiederholungen ins Endlose ziehen würde.

Das Geschäft mit Herrn Li abgewickelt, kam der Mann glücklich wieder runter.

„Gleich auf der Treppe erledigt, Räder standen schon unten, Geld auf den Treppenabsatz gelegt und trotzdem noch erfahren, dass der junge Mann hier als Autoschrauber arbeitet, wer hätte das gedacht.“

Glücklich verstaute der Mann den sauber abgewickelten Deal auf dem Rücksitz, als mein Blick auf das Schild fiel. Immer und überall fällt mein Blick auf diese braunen Wegweiser mit beiger Schrift und Kriegsdenkmal, Soldatenfriedhof, Gedenkstätte oder Internierungslager drauf. So war ich im Sommer schon in den Seelower Höhen gelandet und in Eberswalde und vor Jahren in Halbe. Jedes Mal war das Wetter schön gewesen, hatte zum Flanieren eingeladen und das Grauen unter der Erde weniger grausam erscheinen lassen. Manchmal so wenig grausam, dass ich Hoffnung schöpfte, das Sterben sei den dort Verendeten leichter gefallen auf warmer Erde unter Vogelgezwitscher. Und nun das: Sonnabendnachmittag im jungen Januar, Finsternis, feuchte Kälte um Null, die in meine Turnschuhe kroch, weil ich die statt meiner Winterstiefel trug, denn im warmen Auto hattes ja nur Richtung Brandenburg und wieder zurück gehen sollen. Auf der Winterjacke kein Schal und an den Händen natürlich keine Handschuhe.

Murrend lief der Mann nebenher, der sich doch schon auf Sportschau und Mitnehmabendessen vom Türken gefreut hatte, das wir noch zusammen veranstalten wollten. In einer Stunde wären wir wieder im Warmen gewesen und das Wochenende noch vor der Nase. Nun aber bogen wir ein zum Platz des Gedenkens.

Wohnblöcke und davor eine wandernde Lichterkette in der Dunkelheit, die sich aus der Nähe als dekorierter Kinderwagen entpuppte. Garagen mit Brettertüren. Davor ein Kleinwagen mit einem drin aber ohne Licht. Eine Kreissäge schrie aus einem Reihenhaus. Mein Blick in die Fenster hängte sich an Deckenlampen und Flachbildschirmen auf, blieb an Menschen kleben, die am Herd hantierten.  

Bei Ausschachtungsarbeiten für diese Idylle wurden hier in den 1950er Jahren Tausende Leichen freigelegt und auf 30 LKWs nach Halbe gebracht. Ohne Namen. Ohne Daten. Zu DDR-Zeiten weiter als „unbekannt“ geführt.

Ich las vor. Wir waren ja allein, von den wenigen Toten abgesehen, die sie für die Gedenkstätte dabehalten hatten. „500 Mädchen und Frauen. 6000 Männer (2000 Wlassowsoldaten, Ostarbeiter, Emigranten) kampierten auf nacktem Boden im Keller, auf der Treppe bis zum Dachboden“.

Wlassowsoldaten. Wieder so ein Wort, über das wir so viel wie über Stalin in der Schule gelernt hatten, nämlich gar nichts.

Der Mann und ich standen da, die nasse Kälte in den Knochen, die klammen Hände in den Taschen. Die Wiese wölbte sich in unheimlichen Hügeln, aber vielleicht bildete ich mir das nur ein. Nicht eingebildet habe ich mir die Kälte, dabei trug ich Schuhe und alles und Reißverschluss zu bis zum Kinn.

Wisst ihr, wo unsere Toten liegen – im Wäldchen – unter den grauen Hügeln ruhen sie aus von allem Leid, ohne Sarg und ohne Kleid. Bald wird der Wind eure Gräber verwehn. Eure Namen in unserm Gedächtnis stehn“, las ich weiter, und der Verfasser stand da geschrieben als ebenso „unbekannt“ wie die Toten, denn auch von denen gab es keine Namen mehr, wo sie doch lebend schon namenlos gehalten wurden.

Ich zog den Mantel aus, legte ihn über den Arm. Feuchtkalter Wind kam auf. Keine fünf Minuten hielt ich die Kälte aus in all meinen Klamotten, die ich unterm Mantel trug.

„Lass uns gehen“, sagte der Mann, „bringt ja jetzt auch nichts mehr.“ Mir schon, dachte ich und merkte wieder, wie wichtig es war, das Innehalten nicht zu verlernen. Carbonrad hin. Laufrad her.  

Vom Lesen in der Anderzeit. Heute: Hochhuth TOD EINES JÄGERS. Volk und Welt Spektrum. 1977

Die Premiere findet statt,

wird verschoben;

Hochhuth reist ab,

Hochhuth reist nicht ab;

Bernhard Wicki kann den Text nicht,

kann ihn doch;

Hochhuth redet auf den Proben zuviel dazwischen,

Hochhuth wird von den Proben ausgesperrt;

Wicki kann den Curd Jürgens nicht leiden,

oder war es umgekehrt?

Der Beginn einer Rezension, die in einem Verriss verglüht. Rolf Hochhuth hatte lange vor seinem Sturm aufs Berliner Ensemble (Wunderbar: Jens Bisky in der SZ „Kein Sommer ohne Streit“) den „Tod eines Jägers“ über den Freitod Ernest Hemingways in Salzburg inszeniert.

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Im Kessel Buntes der Verschwörungstheorien bastle ich mir meine eigene: Ernest Hemingway lebt als Ernst Hemmerer am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Der Titel von Rolf Hochhuths Monodrama gefällt ihm gut, der Verriss gefällt ihm weniger, wobei er ihm verdient scheint, schon wegen der Chuzpe des heißspornigen Hochhuths, ihm, Hemingway, den eigenen Tod vorwegzunehmen.

Rolf Hochhuth versucht, dem abenteuerlichen Leben Ernest Hemingways auf die Spur zu kommen. Jenes Mannes, für den nur jene Kriege wirklich stattgefunden haben, in denen er selbst an der Front war. Hemingway glaubt sich verfolgt und bedroht an jenem Morgen seines Freitodes, dem 2. Juli 1961.

Tatsächlich aber steht er, Hemingway, müde lächelnd auf seinem Balkon mit Blick auf die Volksbühne, eine Hand in der Leinenhosentasch‘, die andere am Henkel der Tasse mit schwarzem Kaffee, weil es noch zu früh für Stärkeres ist, wobei ihn nicht interessiert, was andere über ihn sagen und denken und erst recht nicht das, was seiner Gesundheit schädlich ist. Weiß er sich doch eh kurz vorm Freitod, nun aber wirklich, der schon so lange notiert und immer wieder verschoben ist im Kalender. Nur noch einen letzten Blick will er werfen auf die Virusmilitanten vor seiner Tür, wie sie aus Angst vor Augenherpes ihre Gesichtsmasken zu Armbinden machen mit buntbeflaggter Pyramide drauf.

Wie gern würde er ihnen drei selbst erlegte Nasenbären zu Füßen legen, wenn die Gicht im Finger am Abzug ihn nicht daran hindern würde. Die Population an Nasenbären in diesem Land ist tatsächlich beachtlich und – ein ihm zuwideres Wort – beängstigend angewachsen. Ein letztes Mal ungläubig sehen, wie sich das Volk von Dichtern und Denkern über einer Plage entzweit. Ein letztes Mal vom Babylon zum Alexanderplatz und von da weiter zum Reichstag flanieren. Nichts von dem, was er da sieht und hört hätte er je so erfinden können. Keiner, dem er da begegnet, taugt zum Protagonisten eines Romans. Für Gefangene ihrer eigenen Verblendung ist selbst seine Phantasie zu mager.

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In diesem, ihm so fremden Land war schon Schlimmeres als ein Virus geleugnet worden, denkt Hemingway und hustet ab und weiß, dass nun Zeit für den Abschied ist und dafür, dem lärmenden Hochhuth in den Himmel zu folgen. Denn wo Realität die Phantasie überholt, wird Schreiben – und damit das ganze Leben in seiner Fülle – obsolet.

„Du brauchst doch keinen Arzt, um zu sterben! Und d i c h braucht auch niemand mehr… und er lachte und lockte mit dem Witz: Die Friedhöfe liegen voll mit Menschen, die für unentbehrlich galten! – Er geht, stellt die Flinte aufs Parkett, kniet mühelos und drückt sofort ab. Der sehr laute Schuß wirft ihn hinter die Sofalehne zurück.“

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In Zeiten wie diesen gehen die Gedanken gern mal mit einem durch,

so auch mit Eurem

Spirit of Kasimir

***

Quellen:

Alle Fotos havanna©phm.2017

  1. Stilleben „Der Nachruf“
  2. Hemingways Schreibmaschine / Finca Villa Vigia. Havanna
  3. Letzter Wohnort von Ernest Hemingway: Finca Villa Vigia. Havanna

ZEIT Nr. 35/1977: Endlich uraufgeführt: „Tod eines Jägers“ bei den Salzburger Festspielen Sag O.K. zum K.o.! Männersachen: Was Hochhuth, Wicki und Jürgens mit dem toten Hemingway anstellten. Von Benjamin Henrichs

SÜDDEUTSCHE 30. Juli 2013: Kein Sommer in Berlin ohne Streit zwischen Rolf Hochhuth und Claus Peymann. Ersterer ist Dramatiker und Vermieter einer traditionsreichen Spielstätte, letzterer an ebendieser Intendant und Mieter. Derzeit ringen sie um die Aufführung eines Stückes im kommenden Sommer. Eine kleine Chronik. Von Jens Bisky

Vom Lesen in der Anderzeit. Heute: Christine Brückner WERKAUSGABE. Ullstein 1999

Neben Lockerungsskepsis und Herdenimmunität stieß mir letzte Woche das Ableben des Cheflektors von Suhrkamp traurig auf.

Raimund Fellingers Arbeit war vergleichbar mit der eines Hirnchirurgen: Keiner traut sich ran, aber gemacht werden muss sie. Denn seine Autoren waren keine aufstrebenden Ersteinreicher unverlangter Manuskripte, sondern Max Frisch, Uwe Johnson, Peter Handke und weitere dieses Kalibers, die mindestens so austeilen konnten, wie er einstecken.

Er habe „an allen Texten Stellen verändert“, sagte er einmal, er „sage nur nicht, wo“.

Mit Albert Ostermaier. © https://www.derseehof.at/

Bei meiner Lektüre der Nachrufe keimt die Hoffnung, die Berufung eines Berufes kehre irgendwann in unsere Wahrnehmung zurück. Wie von einem prähistorischen Relikt wird von ihr fabuliert, denn nur so lässt sie sich in der Vergangenheit archivieren und als vergangen betrachten.

Den Beruf des Lektors umgibt seit jeher eine Aura: Verlagshaus. Abendlicht verschwindet hinter den Dächern. Den Kopf unter seiner Schreibtischlampe sitzt der Lektor gebeugt über einem Stapel loser Blätter. Einen Bleistift in der Hand, den Radierer zwischen den Fingern der Linken drehend wie einen Handschmeichler.

© The New Yorker

Als ich vor 21 Jahren eintauchte in diesen See der Märchenfische, waberten Rauchschwaden durch die Gänge des Verlages. Kollege M. lektorierte Romane einer maritimen Reihe. Und weil sein Ketterauchen bei ihm zu Hause unerwünscht war, rauchte er die Kette im Verlag. Die U-Boot-Krieg-Autoren starben ihm nach und nach unterm Bleistiftstummel weg, also schrieb er ketterauchend ihre Romane selbst zu Ende. Vornehmlich nachts.

Dann kam das Rauchverbot, und Kollege M. drohte, nicht mehr ins Büro zu kommen, was die Seeschlachten wenig friedlich beendet hätte. Er schlug vor, ab sofort für alle Welt sichtbar im Mumienschlafsack auf dem Hof im Gartenstuhl zu lektorieren. Kollege M. durfte weiterrauchen, die See schlachtete weiter. Bei geschlossener Bürotür.

Als Kollege M. schließlich in Rente ging, wurden die Wände seiner Behausung vierfach getüncht. Heute noch liegt dort der Hauch einer Ahnung von Dunhill in der Luft, hat überlebt, wie auch seine Romane und er selbst.

Es gab sie, die zweibeinigen Gedächtnisse der Verlage, und es waren ihre Autoren, die ihnen Denkmäler setzten. So Christine Brückner („Wenn du geredet hättest, Desdemona“) meiner „Frau Jacobi“, die anders hieß, aber vom Herstellungsleiter in der freitäglichen Schnapsrunde so getauft wurde, jeder einen Weinbrand im Schwenker und bald auch im Kopp.

3.Juli 1975

„Liebe Frau J,

anliegend die Antwort… wobei ich mir gestatte, daran zu erinnern, daß Shakespeare im 13. Jahrhundert Kanonen schießen ließ und Goethes Fehler den stattlichen Band `Hier irrt Goethe‘ füllen. … Schade, daß mein Verleger nichts anderes zu dem Buch zu sagen hatte. Ein Strauß Levkojen[1] wäre nicht unangebracht gewesen….“

3. März 1985

„… wenn ich an Ullstein denke, denke ich nie an Geschäftspartner, sondern an Freunde. Danke! Grüße und: que le bon Dieu fasse le reste!“

Es sieht nur so aus, als wäre ich nach 5 Wochen Archivierung meiner Bücher-DNA erst beim B wie Brückner. Es gibt erstaunlich viele Autoren mit B. Und da rede ich gar nicht von Böll und Bukowski, sondern von Borchert, den Braschs, dem Braun und dem Byron.

Ich bin längst durch, hab mich nochmal ordentlich bei den beiden Z für Zweig, die da Arnold und Stefan heißen, festgelesen und dann das neue Regal bestellt. Denn von S wie Seghers bis zu den Zweigen lagen die auf Boden, die nirgendwo mehr Platz fanden: Und das hatten Silitoe, Tolstoi und Zwetajewa wahrlich noch nie erlebt. (Den Braun habe ich nebenbei sogar repariert. Das ist dem auch noch nie passiert.)

Für Bruno[2] (1979)[3]

… Die Vernehmer glauben sich zu verhören / Im Knast agitiert er die Mönche / Als wüßten die nicht wo Gott wohnt / Die Folter verfängt nicht: er singt ein ´Tedeum / Wohin mit ihm? Die Hölle nimmt ihn nicht auf / Verbrennen wäre die Lösung, doch die ist nicht neu

Flugs im Worldwideweb Regale bestellt und das Mal-schnell-ins-Grüne-Vehikel zu einem Lieferwagen ausgeklappt, mit dem ich die Bretter, die mir die Welt bedeuten, samt Bastelbögen zu mir holte. Sehr glücklich über das Vorher- und das Nachher-Bild, die ich mir zur Bestätigung rahme.

 

Ihr merkt, es hört nicht auf, und das ist gut so beim Lesen und Leben in der Anderzeit.

Euer

Spirit of Kasimir

[1] Christine Brückner. Jauche und Levkojen. Werkausgabe Ullstein 1999

[2] Giordano Bruno

[3] aus: Volker Braun. Training des aufrechten Gangs. Mitteldeutscher Verlag Halle Leipzig. 1987

Vom Lesen in der Anderzeit. Heute: Brautigan DIE RACHE DES RASENS. Rowohlt 1993

So ein Blog ist wie ein Goldfisch im Aquarium. Er steht dekorativ in der Welt, aber der Fisch darin will gefüttert werden.

Auch die Fische in meinem 240 l Aquarium Typ „Juwel“ wollen gefüttert werden. Dabei sind sie so dröge gegenüber allem, was um sie herum vorgeht, dass mir ihr Anblick YingYang in Fischform ist.

Im Aquarium ist die Welt noch in Ordnung – oder sie war es nie. Dort wird nicht gehamstert, sondern gefressen, was der Futterspender reinfallen lässt. Für meine Fische ist immer Sonntag, Homeoffice und kontaktfreie Nähe. Sie scheißen ohne Klopapier und teilen sich kein (mir) bekanntes Gen mit dem gemeinen Hamsterhamster. Den Rat, alle 8 Minuten etwas zu trinken, erfüllen sie sekündlich. Ich folge ihm auch, habe das von chinesischen Ärzten empfohlene Wasser jedoch mit Rotkäppchensekt ersetzt und grinse schon morgens um 10 schön debil vor mich hin. Gegenseitig anstecken tun sich meine Fische übrigens nur zum Spielen und Jagen.

Auch ein dekorativ in der Welt stehender Blog will gefüttert sein. Der vorletzte Eintrag ist von Silvester. Was haben wir uns da alle gewünscht? Die Intellektuellen den Weltfrieden, wir weniger hellen Kerzen am Leuchter, dass alles so weiter geht, eventuell besser wird, wir aber gesund bleiben. Hammer! Wie sorglos und routiniert dieser Wunsch auf jede Geburtstagskarte gepappt wird. An jede Standartgratulation am Telefon oder dem – damals möglichen – Händedruck oder gar Umarmung bei einer – damals möglichen – Feier.

Anfangs dachte ich noch, es genüge, das C-Wort zu vermeiden, um auch den biologischen Irrsinn zu vermeiden, der uns nun in Schach hält. Denn das Wort erwähnen heißt, es manifestieren, heißt, es kriegen. Das war mit der AfD genauso. Ihr PR-Team waren wir alle, die permanent das A-Wort in den Mund nahmen, und irgendwann hatten wir den Salat und die AfD in den Parlamenten.

Meine Fische zum Beispiel manifestieren permanent, dass sie Futter haben wollen. Ich sitze neben ihnen an meinem Schreibtisch, und mein nachdenkliches Kratzen am Ohr deuten sie als Aufbruch zum Futterautomat, um sich dort sogleich im Kreis zu versammeln. Es funktioniert. Ich kann sie nicht sich versammeln sehen und ihnen dann nichts geben. Tue ihnen den Gefallen, drücke aufs Knöpfchen, und das Futter rieselt.

Ich bin beim B. B wie Richard Brautigan. Ein Name wie Donnerhall, wenn man Forellenfischen mag und die Spektrum-Reihe, die von 1968 bis 1993 bei Volk und Welt erschien.

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Dabei ist es seine „Rache des Rasens“*, die bisher verhindert hat, dass ich vom A meiner coronaischen Büchersortieraktion nur bis zum B gekommen bin. In unglaublichen 3 Wochen, in denen es galt, am eigenen Roman weiterzuschreiben, habe ich mich in denen anderer festgelesen.

Und keinen Moment bereut. Kurzfassung:

Großmutter ist Schnapsbrennerin und schüttet die übriggebliebene Maische an einen Birnbaum. Während sie im Keller fröhlich weiterbrennt, machen sich ihre Gänse über die Maische her. Betrunken steckt die eine den Kopf in die Maische und vergisst, ihn wieder herauszuziehen. Eine andere schnattert wie verrückt und versucht, auf einem Bein zu stehen und die W. C. Fields-Parodie eines Storchs zum Besten zu geben. Schließlich fallen alle um und liegen auf ihren Schwanzfedern. Großmutter findet sie vor und hält sie für tot. Pragmatische Frau rupft das Vieh und legt alle auf einen Haufen. Als der Protagonist mit seinem Cadillac in die Hofeinfahrt einbiegt, erwachen die Gänse, kommen ihm nackt entgegengetorkelt und glotzen ihn aus großen Augen an. Da hat er das Auto gegen die Hauswand gesetzt.

So kommen Beulen am Auto zustande, und ich hab‘s noch nirgendwo umwerfender gelesen. So kann ich nicht arbeiten.

Immer noch beim B verharrend,

Euer

Spirit of Kasimir

 

*Richard Brautigan. Die Rache des Rasens. Geschichten. Rowohlt 1993; Original: Revenge of the Lawn/Stories 1962-1970. Simon and Schuster, NYC 1971.

 

Vom Lesen in der Anderzeit. Heute: Andrzejewski DIE KARWOCHE. Rowohlt 1987

Auf merkwürdig schöne Ideen kommt unsereins dieser Tage. Auch mir genügt es nicht, die Stunden des Tages, der nun ohne den Feierabend in die Nacht übergeht, mit Dingen zu verbringen, die ich schon vor dem Wegschluss hätte tun können. Die ich jederzeit hätte tun können. Denn jetzt ist nicht Jederzeit. Jetzt ist Anderzeit.

In der Anderzeit entdecken wir in der Petrischale, in der wir leben und vor uns hin gedeihen bis wir absterben, die DNA. Jeder Mensch hat eine andere. Meine besteht aus doppelreihig aufgestellten Büchern. Der kleinste gemeinsame Nenner dieser Bibliothek und dem verloren gegangenen Überblick ist eine Excel-Datei. Ich bin erst beim A, und im Wohnzimmer sieht es bereits aus wie im implodierten LKW einer Buchauslieferung.

Hier treffe ich sie, meine vernachlässigten Freunde. Hatte sie kennengelernt in vergangenen Jahrzehnten, manche von ihnen lustlos mitgeschleppt, andere regelrecht hofiert und behutsam in die Kisten meiner zwei Dutzend Umzüge gelegt. Viel „Goldstaub“ und „Bückware“ darunter, für die ich mich als Händlerin im Volksbuchhandel der DDR nicht wirklich bücken musste.

Bücher sind Freunde. Jetzt, da ich kaum welche treffen kann und nicht jeder soziale Kontakt ein Freund ist, bin ich hier von verboten vielen umgeben…

Karfreitag, 10. April 2020

Jerzy Andrzejewski

Die Karwoche

Rowohlt Jahrhundert. Band 7. 1987

Die Handlung endet heute vor 77 Jahren.

In Warschau ein so „prachtvoller Frühling“ wie in Berlin am heutigen Tag.

„Vor den Kirchen stauten sich die Menschenmassen.“

Vor dem Haus, in dem Anna und Jan Malecki leben und sich auf die Geburt ihres Kindes freuen, spielt eine Horde Jungen. Bauen eine Mauer aus Erde, Lehm, Zweigen und Glassplittern. „Das ist das Getto“, ruft einer und reibt sich stolz und doch erschöpft die Hände.

Vier Tage zuvor war Jan Malecki ihr begegnet, Jahre nachdem sie sich aus den Augen verloren hatten und während der er sie, wie auch ihre Eltern, für verschleppt und tot gehalten hatte.

Irena Lilien ist verbittert,

„ihr Ausdruck hatte den charakteristischen Schmelz eingebüßt“

Jan nimmt sie bei sich und Anna auf.

„Er trägt das Gefühl von Mitschuld in sich wie eine Wunde, in der das ganze Übel der Welt zu schwären schien.“

Und doch gerät er immer wieder in Streit mit Irena. Sie hält ihn für den

„Typ Intellektueller, der den eigenen Seelenkonflikt wichtiger nimmt als das tatsächliche Leid der anderen“

Und sie reiben sich auf in der Bewertung ihres jeweils eigenen Elends, in der sie

„unbewußt die Verschiedenheit ihrer Schicksale unterstrichen“

Irenas Vater, der angesehene Professor Lilien, hatte sein Leben beendet, indem er sich auf einem Waldweg einer Gruppe Juden anschloss, die zur Hinrichtung auf eine Lichtung getrieben wurden. Und nun genügt der feiste Piotrowski, um Irena Lilien in Panik zu versetzen. Er legt sich einfach nur auf die Wiese, das Haus und den Balkon der Maleckis fest im Blick.

Die ganze Karwoche hindurch brennt das Getto. Eine dunkle Rauchwolke hängt über der Stadt und trägt die Schreie in sich…

„Wer schreit so? Das können doch nicht Menschen sein.“

Der Frühling geht einfach weiter.

„Hinter den entwürdigenden Mauern gingen Menschen zugrunde, und nichts veränderte den Lauf des Lebens ringsum.“

Unter Maleckis Kollegen werden Sprüche geklopft.

„Aber unter uns gesagt, ein bißchen recht hat der Bursche, Ich, siehst du, bin kein Freund von solchen Methoden… bin überhaupt nicht für den Faschismus – aber was wahr ist, ist wahr! Hitler löst für uns Polen das Judenproblem. Auf seine Art, barbarisch – aber radikal.“

Die Bewohner des Hauses

„arbeiteten sich durch das Dickicht der neusten Nachrichten, verlegten sich sogleich erst aufs Deuten, dann aufs Prophezeien… bis belanglose Gespräche aus Nachrichten von den Fronten begannen, unschädlich zu verglimmen und schließlich in verlegenem Schweigen unterzugehen.“

Man lebte auf der

„richtigen Seite der Mauer“ …

***

Heute wäre ich nach Krakau gefahren. In die pulsierende Stadt und raus zur Gedenkstätte des Konzentrationslagers Auschwitz. Stattdessen hat mich mein Archivierungswahn ins Warschau des Jahres 1943 geführt. Hier bleibe ich noch eine Weile; hier, bei jenen Freunden, die mich nicht gehen lassen. Bin seit Tagen bei ihnen, den Andrzejewskis, Arendts, Austers, Alighieris. Sie alle weisen mir den Weg in eine noch weite, in eine interessante, in eine erschütternde, aber auch bereichernde Reise bis hin zu den Zolas, Zweigs und Zwetajewas.

Euer

sich immer wieder festlesender

Spirit of Kasimir

Rezo ist Silber. Machen ist Gold.

Lieber Rezo,

ich reagiere nicht auf Dich, sondern auf die (von der CDU abgesehen) nahezu ungeteilte Begeisterung für Dein CDU&Co.-Zerstörungs-Video.

Deine Botschaft und die 14 Millionen Klicks darauf formulieren sich für mich zu einer einzigen Frage: Wo seid ihr jenseits von Manifestation und Videobotschaft, wenn man Euch braucht?

Wo seid ihr, wenn Gleichaltrige den angebotenen Ausbildungsplatz (Quelle 1) nicht annehmen und nach dem erschöpfenden Abitur, das ursprünglich mal auf einer Backe abgesessen wurde, eine „Auszeit“ brauchen? (Quelle 2) In welcher Nervenzelle lungert der Klimagedanke, während sich mit Shoots in Plastikflaschen in der S-Bahn für die Clubparty aufgewärmt wird? Und wo sind Deine Follower, wenn es um die Wahl geht, um die Wahl nämlich, ob man überhaupt wählen geht oder aus „Politikverdrossenheit“ am Sonntag lieber chillt und damit die eigene Stimme nicht nur (ich zitiere) „nicht der CDU und nicht der SPD“, sondern auf jeden Fall jemandem gibt, der sich über jede ungenutzt gültige Stimme freut? (Quelle 3)

Ihr Mid-Twenties seid seit zirka zehn Jahren wahlberechtigt, und die Mehrzahl Deiner Liker ist es wahrscheinlich schon viel länger. Denkberechtigt und -verpflichtet seid ihr qua Geburt. Eltern habt ihr auch, und einige von Euch haben auch Kinder. Hast Du auch nur ein μ Deiner Botschaft, bevor sie in den Äther ging, wirksam an Deinem eigenen Umfeld, Deiner Family, in Deinem Hood und in Deiner Clique ausprobiert? Ist dort wirklich jeder dabei, keine Nestlé-Produkte zu kaufen, sich um einen steuerpflichtigen Job zu kümmern, um eine nachhaltige Erziehung der eigenen Kinder und um Konsum jenseits des Plastikwahnsinns?

Woher kommen Du und Greta jetzt, da sich in einem Großteil unseres Landes (den 30-Jahre-„neuen“ Bundesländern nämlich) und in ganz Europa rechte Kräfte längst freigeschwommen haben?

Wo wart ihr und Eure Überzeugungsarbeit an der Basis, wo wir heutigen Looser (CDU und SPD) immer noch (jenseits von Tagesschau und Anne Will) ziemlich viel bewegen (nur kann nicht jeder Ortsverein seinen eigenen Youtube-Channel starten), Euch die Parteien aber zum Mitwirken zu uncool sind, obwohl ihr genau dort tatsächlich etwas verändern könntet?

Ich teile Deine Meinung, dass „junge Leute mehr Politik machen“ sollen, aber diese erschöpft sich eben nicht darin, dass „junge Leute sagen, was Scheiße ist“. (Quelle 4) Das reicht mir nicht. Labern kann ich auch. Machen ist die Parole.

Selbst Stéphane Hessel meinte mit „Empört Euch!“ als alter Résistancler etwas mehr als Kamera an und raus mit dem Scheiß. Vor der Empörung kommt das Engagement. Auch wenn es dort unbequemer ist als in der Komfortzone am PC.

Genau dorthin grüßt Dich, lieber Rezo,

Dein bekennender SPD-Looser,

The Spirit of Kasimir

Foto: Martin Hartung

SOKurzgefasst

Einen so gewaltigen Aufschrei wie den um Juso-Chef Kühnert hätte ich mir bei der kürzlich erfolgten Bekanntgabe deutscher Rüstungsexporte (49 Mrd €) gewünscht.
Juso-Vorsitzender Gerhard Schröder forderte 1978 die Beseitigung der Vorrechte der herrschenden Klasse im Allgemeinen, seine Jusos damals die Abschaffung des Maklerberufs im Speziellen. Die Panik blieb aus und die Makler gibt’s auch noch, so sie sich neben Airbnb halten konnten.
„In jenen Zeiten war das Denken in gesellschaftlichen Alternativen wesentlich normaler als heute.“* Heute äußert sich der aktuelle Juso-Chef zum Sozialismus und sorgt für einen Tsunami im Wasserglas. Statt des Denkens IN Alternativen überlassen wir selbiges nämlich neuerdings DEN so genannten. Und schon finden sich AfD, CDU/CSU und FDP im einheitlichen Protestmodus gegen das Interview eines jungen Wilden, der in einer weniger wilden Wochenzeitung über ein Wort sinniert, das mancher von uns eine Schulzeit lang durchdeklinieren musste.
Die Empörung erreicht eine Kraft, die ich mir beim Schul- und Wohnungsbau oder wenigstens beim Abriss des BER wünsche, und ausgerechnet von CSU-verkehrt-Minister Scheuer wird Kühnert als „verirrter Phantast“ bezeichnet. Schön. Denn ein bisschen mehr Phantasie und weniger B.Scheuert klingt hier nach einer ECHTEN Alternative.

Euer heute kurz angebundener Spirit of Kasimir

 

*Holger Schmale / Berliner Zeitung 3.5.2019

Nicht die Hoffnung stirbt zuletzt. Danach kommt noch die SPD.

Leute, wir sind bei 17%. Das schaffen weder Graue Panther noch die restliche Tierschutzallianz. Wir sind auch stärker als die Violetten mit ihrer spirituellen Politik, haben die Partei für Gesundheitsforschung haushoch überflogen, auch die ÜberPartei der Bergsteiger haben wir gnadenlos abgehängt. Da ist viel Musike drin, was soll uns denn jetzt noch passieren? Dem Außenseiter AfD haben wir bei unserem Höhenflug sogar noch auf das Siegertreppchen geholfen. So sind wir nämlich, wir Genossen: immer für den anderen da. Selbstlos. Machtlos. Ziellos.

Und falls jetzt nochmal einer fragt: ja, ich bin trotzdem noch drin. Weil so eine Partei eben keine Facebookgruppe ist, die ich wütend verlasse, weil der aufgeklärte Rainer die Regeln geändert hat und nun doch keine Postings mit Foodporn nichtveganen Inhalts akzeptiert.

So eine Partei ist auch keine Gesichtsmaske, die ich mir auflege und wieder abrubbele, sobald es ä bissl zu jucken beginnt. Die zehn Minuten muss ich schon durchhalten, sonst bröckelt mir die Verjüngung im Ausguss weg.

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Ja, es ist Mist und ja, ich wünschte mir auch eine Chefin, die als Rampensau mehr als einen Pippi Langstrumpf-Song drauf hat und nicht über alle Maaßen und Köpfe hinweg Entscheidungen mitträgt, die soviel Mut brauchen wie ein Panzerfahrer beim Überwinden einer Barriere aus Nussschalen.

Aber meine SPD ist ganz einfach noch nicht weit genug unten, da geht noch weniger als 17%, und ich bin mir sicher, auch das schaffen wir. Denn erst, wenn der Daumennagel am Boden des Eimers kratzt, poppt die Gänsehaut auf, verteilt den Schauer auf der Haut und macht wach.

Währenddessen reißen wir uns in den Ortsvereinen weiter den Allerwertesten auf, rennen neben Job und Familie in die Ausschüsse für Bau und Gleichheit und Inklusion und ökologische Stadtentwicklung und Mieterschutz, machen Euch schöne Sommerfeste bei Freibier und halten den ABC-Schützen bei der Einschulung am Samstagmorgen auch gerne mal die Schultüte, während das eigene Kind zuhause beim Babysitter sitzt.

In Berlin kann SPD übrigens außer Nichtgewähltwerden auch Mindestlohn, Zuschüsse für Sozialmieten, höhere Investitionen in Krankenhausversorgung, Familienfördergesetz gegen Kinderarmut, verbilligtes Sozialticket und neue Hochschulverträge mit mehr Zuschuss. Nur klingt das alles leider nicht so sexy wie der schmatzende Sound der Häme. Gegen diese Art von Lärmbelästigung wende ich renitent das gleiche Mittel an: Einfach machen. Einfach weitermachen.

Mit nur einem Messer im Rücken gehen wir noch lange nicht nach Hause. Und ja, ich bin gekommen, um zu bleiben. Als Exoten werden wir doch irgendwann sowieso unter Artenschutz gestellt, und wer mich kennt, der weiß, wie ich diese Art von Aufmerksamkeit genieße.

Weniger sind mehr, heißt es doch so schön. Und ganz wenige sind dann die allermeisten.

Euer Spirit of Kasimir,

der sich heute mal das Parteibuch unter das Kopfkissen legt. (Bei der Zahnfee hat das mit der Belohnung schließlich auch geklappt.)

 

 

 

Mein allererstes Krankheits-Posting

Facebook benutzt meine Daten, meine Gewohnheiten? Super! Hier meine öffentliche Botschaft an Pharmakonzerne und sonstige Lobbyisten des Gesundheitssystems und JA, ihr Humbug-Analyticas, bitte nehmt ZUGRIFF auf diese äußerst privaten Nutzerdaten, TEILT die Schande und WEIDET sie aus (und da mein GPS im Handy 24/7 angeschaltet ist, kein Problem für euch rauszufinden, wo überall ich mich heute aufgehalten habe, also go ahead FOLLOWING ME!):

Kleine Utopie, am ersten Tag der Osterferien mit entzündeter Arthrose einen Arzt zu finden. PAH! Hab ich schon erwähnt, dass ein aufgeblasenes Knie Schmerzen verursacht und einen Teil der entzündlichen Flüssigkeit als Schweiß auf die Stirn katapultiert? Hangel mich an Geländern und Häuserwänden entlang, mache Fahrstühle und Rolltreppen ausfindig in Ecken, die ich wegen der hohen Konzentration an Pisse bisher gemieden hatte (besteht ein stringenter Zusammenhang zwischen Blasenschwäche und Rollstuhlrampen?).

  • Friedrichstraße, Orthopäde meines Vertrauens: Leider gar nix mehr frei, alle im Urlaub, morgen 15 Uhr. – Ok, noch 30 Stunden bis dahin. Darauf eine Ibu 600.
  • Linienstraße, next exit: Hausarzt meines Vertrauens. Wünsche schöne Ostern, mich vertritt die nette Kollegin in der Dorotheenstraße. – Ok, waren ja nur 1000 Meter. Darauf ein Fishermen´s Friend.
  • Vor der Tür der netten Kollegin die Feststellung, dass sie a) nix Orthopädisches und b) erst in 2 Stunden aufmacht. Dafür nebenan ein … ORTHOPÄDE! Der aber erst in einer Stunde wieder zum Punktieren bereitsteht. – Ok. Ist dann ja nur noch 1 Stunde. Darauf ein Gaffel-Kölsch im Gaffel-Kölsch gegenüber. Iss ja schon Mittag, bin ja schon 3 Stunden auf den Beinen (minus einem entzündeten) unterwegs.
  • Pünktlich beim Orthopäden: Bin Notfall. Bin Schmerzpatient. Laufen nicht mehr möglich (liegt nicht am Bier). Sie lässt mich gar nicht ausreden, soll mich auf 3 Stunden Wartezeit einrichten. Sehne mich zurück ins Gaffel-Kölsch. Zwei Bunte und zwei Gala halten mich davon ab. Nach einer Stunde hab ich Sehnsucht nach Aufmerksamkeit. Und wenn es die einer Notaufnahme ist. Gehe in die Charité, sage ich. Ja, sagt sie lächelnd. Da warten Sie noch länger. Streicht mich – immer noch lächelnd – von der Liste, und ich möchte sie schlagen. – Ok. Sind ja nur 2000 Meter. Darauf ein Tempo an die Stirn und eine Ibu 400 auf Ex.
  • Am Wegesrand das Schild zur Orthopädischen Ambulanz Charité. Weil ich den Leuten mit Messer im Bauch nicht den Platz wegnehmen will, gehe ich lieber dahin. Weit gefehlt. Rothaarige übersieht die Tränen auf meiner Stirn und in mittlerweile auch meinen Augen und erklärt mir das Organigramm einer Universitätsklinik. Was ich hier also wolle, schnickschnack Schmerzen, das gehe so nicht. (Wenn im Gesundheitssystem Deutschlands der Ton die Musik macht, haben wir mehr zu überdenken als unsere Nationalhymne.) – Ok. Nun also doch das harte Programm und nochmal 1000 Meter. Ibu sind alle, kein Gaffel in der Nähe, also wieder ein Fishermen. (An meinem Atem isses bestimmt nicht gescheitert.)
  • Stehe vor der Tür der Notaufnahme. Hohes Gras zwischen  den Betonplatten. Wundere mich über die Ruhe. Ein Graffitikreuz sagt genau das: Ruhe sanft. 26.10.2016. Die sind also umgezogen. Hangel mich neben einem Penner an der Wand entlang und beneide den Typen in seiner Suffsorglosigkeit. Wir haben den gleichen Weg. Aber ich bin die schnellere von uns beiden Lahmen.
  • In der neuen, ganz frischen Emergenzia dann nach zwei Aussortierungen ein weißes Bändchen am Arm wie meine Tochter zu ihrer Geburt hier vor 23 Jahren, zu meinem fußballdicken Knie und mir Simulantin sagt der Arzt wie auf Speed: Haben Sie es schon mit Ibuprophen versucht? Oder an ein künstliches Kniegelenk gedacht? An den Krücken, die er mir als Notbehandlung mitgibt, möchte ich ihn kreuzigen. Frohe Ostern sage ich noch.

Bin ganz friedlich. Habe ja in petto noch den Termin beim Orthopäden meines Vertrauens, bis zu dem es nun nur noch 16 von ehemals 30 Stunden sind. Darauf eine Thrombospritze und eine Ibu 600, die ich zuhause noch gefunden habe. – So, ihr Datentrüffelschweine, nun teilt das auch bitte allen mit, dann sind wir wieder Freunde.

Euer Spirit of Kasimir