Internierungslager Nr. 5. Ketschendorf. Mai 1945 – Februar 1947
In Brandenburg galten schon gestern die Corona-Regeln, aber der Mann wollte unbedingt aufs Land zu einem Herrn Li aus China und dort zwei Laufräder AX Lightness Carbon abholen. Was will der Mann mit Laufrädern, dachte ich, wir haben keine so kleinen Kinder. Tatsächlich waren es Räder für´s Fahrrad Giant Advanced Carbon, die Herr Li ihm für 500 mitgeben würde, wo die doch mindestens 2000 wert wären. Wer in China der Diktatur und den Fledermausmärkten entflohen war, sollte doch in Deutschland nicht um 1500 Euro behunzt werden, dachte ich noch und sagte nichts, weil das immer besser war bei Sachen, von denen man (ich) schlichtweg keine Ahnung hatte.
Ich stieg aus dem Auto vor dem Haus des Herrn Li und schaute mich um, während der Mann nach oben zu seinem Laufräderdeal hastete. Weil ja nur eine Person eine andere aus einem Haushalt treffen durfte. Und soweit gehen der Mann und ich nicht, dass wir zusammenziehen, nur um Leute treffen zu können. Wartete ich halt auf der Straße. In fremden Gegenden konnte das interessant sein, und ich rauche ja gern und wars gewöhnt, auch in der Kälte.
In dieser fremden Gegend gabs nichts für mich zu sehen. Herr Li wohnte zwischen Lidl und Polizei an einer Bundesstraße mit einer Fußgängerampel. Also machte ich nichts als rauchen und warten und hoffen, dass sich da oben hinter den Masken kein genuscheltes Fachgespräch abspielen und schon aufgrund zahlloser „Wie bitte?“-Wiederholungen ins Endlose ziehen würde.
Das Geschäft mit Herrn Li abgewickelt, kam der Mann glücklich wieder runter.
„Gleich auf der Treppe erledigt, Räder standen schon unten, Geld auf den Treppenabsatz gelegt und trotzdem noch erfahren, dass der junge Mann hier als Autoschrauber arbeitet, wer hätte das gedacht.“
Glücklich verstaute der Mann den sauber abgewickelten Deal auf dem Rücksitz, als mein Blick auf das Schild fiel. Immer und überall fällt mein Blick auf diese braunen Wegweiser mit beiger Schrift und Kriegsdenkmal, Soldatenfriedhof, Gedenkstätte oder Internierungslager drauf. So war ich im Sommer schon in den Seelower Höhen gelandet und in Eberswalde und vor Jahren in Halbe. Jedes Mal war das Wetter schön gewesen, hatte zum Flanieren eingeladen und das Grauen unter der Erde weniger grausam erscheinen lassen. Manchmal so wenig grausam, dass ich Hoffnung schöpfte, das Sterben sei den dort Verendeten leichter gefallen auf warmer Erde unter Vogelgezwitscher. Und nun das: Sonnabendnachmittag im jungen Januar, Finsternis, feuchte Kälte um Null, die in meine Turnschuhe kroch, weil ich die statt meiner Winterstiefel trug, denn im warmen Auto hattes ja nur Richtung Brandenburg und wieder zurück gehen sollen. Auf der Winterjacke kein Schal und an den Händen natürlich keine Handschuhe.
Murrend lief der Mann nebenher, der sich doch schon auf Sportschau und Mitnehmabendessen vom Türken gefreut hatte, das wir noch zusammen veranstalten wollten. In einer Stunde wären wir wieder im Warmen gewesen und das Wochenende noch vor der Nase. Nun aber bogen wir ein zum Platz des Gedenkens.
Wohnblöcke und davor eine wandernde Lichterkette in der Dunkelheit, die sich aus der Nähe als dekorierter Kinderwagen entpuppte. Garagen mit Brettertüren. Davor ein Kleinwagen mit einem drin aber ohne Licht. Eine Kreissäge schrie aus einem Reihenhaus. Mein Blick in die Fenster hängte sich an Deckenlampen und Flachbildschirmen auf, blieb an Menschen kleben, die am Herd hantierten.
Bei Ausschachtungsarbeiten für diese Idylle wurden hier in den 1950er Jahren Tausende Leichen freigelegt und auf 30 LKWs nach Halbe gebracht. Ohne Namen. Ohne Daten. Zu DDR-Zeiten weiter als „unbekannt“ geführt.
Ich las vor. Wir waren ja allein, von den wenigen Toten abgesehen, die sie für die Gedenkstätte dabehalten hatten. „500 Mädchen und Frauen. 6000 Männer (2000 Wlassowsoldaten, Ostarbeiter, Emigranten) kampierten auf nacktem Boden im Keller, auf der Treppe bis zum Dachboden“.
Wlassowsoldaten. Wieder so ein Wort, über das wir so viel wie über Stalin in der Schule gelernt hatten, nämlich gar nichts.
Der Mann und ich standen da, die nasse Kälte in den Knochen, die klammen Hände in den Taschen. Die Wiese wölbte sich in unheimlichen Hügeln, aber vielleicht bildete ich mir das nur ein. Nicht eingebildet habe ich mir die Kälte, dabei trug ich Schuhe und alles und Reißverschluss zu bis zum Kinn.
„Wisst ihr, wo unsere Toten liegen – im Wäldchen – unter den grauen Hügeln ruhen sie aus von allem Leid, ohne Sarg und ohne Kleid. Bald wird der Wind eure Gräber verwehn. Eure Namen in unserm Gedächtnis stehn“, las ich weiter, und der Verfasser stand da geschrieben als ebenso „unbekannt“ wie die Toten, denn auch von denen gab es keine Namen mehr, wo sie doch lebend schon namenlos gehalten wurden.
Ich zog den Mantel aus, legte ihn über den Arm. Feuchtkalter Wind kam auf. Keine fünf Minuten hielt ich die Kälte aus in all meinen Klamotten, die ich unterm Mantel trug.
„Lass uns gehen“, sagte der Mann, „bringt ja jetzt auch nichts mehr.“ Mir schon, dachte ich und merkte wieder, wie wichtig es war, das Innehalten nicht zu verlernen. Carbonrad hin. Laufrad her.
Liebe Patricia, Dein Beitrag erinnert mich an meinen im Krieg verlorenen Vater und an das Lied: „Sag mir wo die Soldaten sind, wo sind sie geblieben. Über den Gräbern weht der Wind“ … von Marlene Dietrich, glaube ich. Einziger Troost; im schönen Wald ruhen zu dürfen und lebende Bäume als Partner zu haben, könnte zu einem neuen Leben erwecken. Bitte glaube daran! Das Bewusstsein ist ewig und irgendwann einmal sucht dieses sich einen neuen Frauenkörper und blüht wieder auf. – Deine Inge
Liebe Inge, lieben Dank für Deine Worte. Sie ergänzen diesen Text um Wertvolles. Deine Patricia