Berlin wird nie die Stadt der Engel sein. Und doch ließen sich zwei von ihnen aus dem Himmel über Berlin auf uns herab. Sie sind Beobachter in der geteilten Stadt, können die Gedanken der Menschen lesen und sind dabei zur Untätigkeit verdammt, erleben den Segen als Fluch. Ausgerechnet eine Trapezkünstlerin am künstlichen Himmel eines Zirkuszeltes gewinnt das Herz eines der beiden … und der Rest ist Filmgeschichte. „Engelsflug“ schreibt Kriminalgeschichte.

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An manchen Büchern lese ich lange. Sie führen mich ständig zu weiteren Büchern.

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Und sie verführen mich dazu, willkürlich Artikel aus der Tageszeitung zu reißen, die ich sonst wohlbehalten dem Katzenklo übergebe. Manche Bücher verführen mich beim Lesen zu Filmen und Dokumentationen, sie schaffen Bilder im Kopf, die wiederum neue Bilder schaffen und sich schließlich zu einem großen Ganzen fügen. Solche Bücher schreibt Robert Baur. „Engelsflug“ ist sein zweiter Kriminalroman um den Exkommissar Robert Grenfeld.

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Er führt in das Berlin der 1920er Jahre und dort in die Friedrichstraße, Ecke Leipziger. Hier hat der privat Ermittelnde Grenfeld sein Büro über einer Galerie.

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Aus ebenjener Galerie wird eine Lithographie mit dem Titel „Zirkus“ gestohlen. Am Tag der Filmpremiere von Fritz Langs „Metropolis“ wird vor dem Ufa-Palast ein Mann überfahren. Der Fahrer begeht Fahrerflucht. Grenfeld war im Kino gewesen und ist somit als Erster vor Ort. In der Manteltasche des Toten findet er eine Zeichnung, das Motiv ist identisch mit der gestohlenen Lithographie. Für Grenfeld gibt es Fügungen, aber keine Zufälle. Unter argwöhnischer Beobachtung durch seine früheren Kollegen ermittelt Grenfeld nun auf eigene Faust gegen die Zeit und gegen die schnell verbreitete Annahme, es habe sich lediglich um einen Unfall gehandelt.

„Nur der Kopf hat sich an den rasanten Verkehr gewöhnt. Die Beine laufen immer noch zwischen den Pferdedroschken. Vom Kopf bis in die Beine, das dauert.“

An seine Seite drängt sich Olja Grekova, die Sekretärin der Galerie unter Grenfelds Büro. Schon lange träumt sie davon, es ihrem Idol Joe Jenkins gleichzutun. Nur widerwillig fügt sich Grenfeld ihrem Ermittlungsdrang und dem einiger schräger Gestalten aus seinem Umfeld, die den Leser in die Berliner Unterwelt und in ein Flüchtlingslager nach Wünsdorf führen. Nun ist es der Leser, der chauffiert wird – allerdings nicht im betulichen Tempo eines Touristenbummels, sondern mit Hochstart und sofort rasant. Und genau hier beginnt auch meine Reise, die mich immer wieder an das eigene Bücherregal und an den Bildschirm führt. Im „Engelsflug“ lande ich bei Ernst Gennat – der Koryphäe Berliner Kriminalgeschichte, die der Autor nicht glorifiziert, sondern als Zeitzeugen hinzuzieht.

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Obwohl es Gennat schon gegeben hat, wird dieser Haudegen kriminalistischer Ermittlungsarbeit immer wieder neu erfunden, er taucht in zahllosen Filmen und Romanen auf, mal als Zitat, mal als Figur, mal als Referenz – aber immer auch als Kompliment. So auch bei Fritz Lang, zu dem mich der „Engelsflug“ führt und der Stadt, die einen Mörder sucht.

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Ich scrolle durch Archive, die mir den Potsdamer Platz zu Zeiten des Hotel Esplanade vor Augen führen und sitze im Kakadu auf einen Cocktail. Ich lande an einem Essensautomaten, der statt Himbeerkuchen Würstchen mit Senf ausspuckt und damit genauso ist wie das Leben, nämlich

„…ein großer Automat voller Verheißungen. Man warf einen Groschen ein und bekam garantiert eine Überraschung serviert.“

Ich lande auf dem Trapez im Zirkus Sternheim, wo ein Mädchen vermisst wird, Amina. Die blutjunge Schönheit aus dem Kaukasus ist die Einzige, die das Wunder des „Engelsfluges“ beherrscht, ein

„Manegenspiel, … das den Mut und die Kraft eines Mädchens aus den Bergvölkern“

zeigt, eine Nummer auf dem Hochseil, wie es sie nie zuvor gegeben hat. Ein wichtiger Zeuge Grenfelds begeht Selbstmord, denn

„wo der Krieg langsam in Vergessenheit gerät, braucht der Tod neue Verbündete“.

Doch dass in der Masse jener Lebensmüder auch der eine oder andere Mord unentdeckt geparkt werden kann, scheint nur Grenfeld zu interessieren.

Es ist der Sog der Sätze, die ohne unnötige Absätze einen Lesefluss entspringen lassen; ohne Schnörkel wird die Handlung spannend aufgebaut und straft das trotz seines Erfolges seltsam belächelte Genre des „Regionalkrimis“ mit einer großen Portion Geschichtswissen und Gesellschaftskritik ab. Denn was sich hier in der Gigantomanie des 20er Jahre Berlins abspielt, erinnert unmittelbar an das Berlin von heute. In sehr präzisen Metaphern findet der Autor ein Bild für Berlin, das sich bis heute nicht abgenutzt hat. Es ist der Kaukasier Jaragi, dem er die Worte in den Mund legt für diese Stadt, an deren Beschreibung man eigentlich nur scheitern kann.

„Die Gesichter Berlins. Das Phänomen der toten Augen. … Selbst ein Fisch in den Gebirgsbächen seiner Heimat besaß lebendigere Augen. Vielleicht lag es an den Behausungen…. den kilometerlangen gleichförmigen Mietskasernen, in denen die Menschen zu wohnen gedachten.“

Nach „Mord in Metropolis“ (Gmeiner 2014) ein weiteres Glanzstück des Autors mit jenem orwellschen Gespür für einen glaubhaften, wahrhaften und immer spannenden Kontext aus Vergangenheit und dem, was wir mal wieder nicht daraus gelernt haben.

Dieses Buch hat meine ganz persönliche Leseempfehlung.

PS: Eine geniale Ergänzung am Schluss sind das Kapitel „Fiktion und Wirklichkeit“, in dem der Autor den realen Bezug zu den Protagonisten und Handlungsorten in seinem Roman offenlegt, sowie die Danksagung, in der sich für jeden Autoren hilfreiche Informationen über Fachleute und Archive finden.

phm. 12/16

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photocredits:

1 „Himmel über Berlin“; Bruno Ganz, Solveig Dommartin © wimwendersstiftung.de

2 Desk / phm.2016

3 Sittengeschichte der Inflation von Hans Ostwald / phm.2016

4 Robert Baur „Engelsflug“ © Gmeiner 2016

5 Berliner Verkehr. Friedrichstraße Ecke Leipziger Straße / Robert Baur 2016

6 Ernst Gennat © picture-alliance / Rolf Kremming

7 aus: Fritz Lang „M. Die Stadt sucht einen Mörder“ © Praesens

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