Auf der Straße vor der „Grießmühle“ drängeln sich Musiker mit gehalfterten Gitarren vorbei an Schriftstellern, die auf einer der geduldeten Bühnen eine Lesung aus alten Manuskripten ersteigert haben. Der Vater zerrt seinen Sohn am Ärmel durch das morgengrauende Berlin. „Hashtag: alles ok“ ruft er einem Entgegenkommenden zu, der ihm augenzwinkernd mit „Like“ antwortet.
„Wer war das?“, fragt der Sohn. Der Vater legt mahnend den Zeigefinger auf die Lippen. „Nicht so laut in der Öffentlichkeit“, flüstert er, obwohl auf den letzten Metern zur Buchmesse niemand mehr in Hörweite ist. „Du weißt, dass du die Dudensprache mit keinem außer mir sprechen darfst. Und ich möchte, dass du dich endlich an das Vokabular Web 3.0 gewöhnst, sonst wird das nichts mit deiner Ausbildung!“
Der Sohn schaut trotzig. „Aber das letzte Paintballexamen habe ich mit höchster Punktzahl absolviert. Meinem Bachelorabschluss in Ingenieurswissenschaften steht also nichts mehr im Wege.“
„Nicht so laut!“, brüllt der Vater, als die Ampel auf Grün wechselt.
Auf der anderen Straßenseite leuchtet die Fassade des „Estrel“ im Grau des Tages. Verstohlen schaut sich der Vater um. Am Eingang steht ein Mann mit einem Bauchladen und vergilbten Zeitungen darauf. „Codewort!“
„Schnee, der auf Zedern fällt“, pariert der Vater.
Der Mann wird bleich und deutet eine Verbeugung an. Dann drückt er dem Vater einen Papierschnipsel in die Hand und flüstert: „Ihre Pressekarte!“. Ehrfürchtig bilden die Menschen im Eingangsbereich ein Spalier.
Drinnen zeichnet sich rege Betriebsamkeit ab. Der Sohn deutet auf zwei Männer, die sich über einen Tisch beugen. „Was machen die da?“
„Sie blättern in Büchern. Wahrscheinlich werden sie auch welche kaufen. Damit verdienen sie ihr Geld. Die Buchhändlerin…“, der Vater deutet mit einer Kopfbewegung auf eine junge Frau mit einer Punkfrisur in Buchseitenoptik, „zahlt ihnen den Preis, den jedes Buch kostet. jeweils in bar.“
Der Sohn wird hellhörig. „Dann könnte ich mir auch mein Geld damit verdienen, Bücher zu kaufen.“
„Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du deine Ausbildung riskierst, wenn dich jemand mit einem Buch erwischt! Kapier das doch endlich! Dass ich die diesjährige Pressekarte abbekommen habe, ist nur deiner oberschlauen Mutter zu verdanken! Sie war es, die auf das Guerilla-Marketing des Clubs der Toten Verlage reingefallen ist und unseren Besuch hier gewonnen hat!“
Ein Mann löst sich aus einer Menschentraube. Mit der rechten Hand, die an der Stelle des Zeigefingers einen blutigen Stumpen hat, weist er auf den Vater. „Wolfram! Du altes widerstandsfähiges Material!“
Erklärend wendet sich der Vater an den Sohn: „Ulli war unser Chemieass in der Klasse. Er gab mir den Spitznamen W 74 und fand das lustig.“
„Chemie?“, fragt der Sohn.
„Schon gut“, der Vater winkt ab, „das führt jetzt zu weit.“
Er wendet sich dem Mann zu. „Es wäre schön, du würdest meinen Besuch hier für dich behalten.“ Der Mann errötet und geht weiter.
Im Vorbeigehen klaubt der Vater eine Handvoll Erdnüsse von einem Büchertisch und gibt seinem Sohn einige davon ab. „Die Lizenz für einen Stand wird nur im Zusammenhang mit Lebensmitteln vergeben. Seitdem treibt die Dekoration der Bücherstapel essbare Blüten.“
Der Junge kaut gedankenverloren vor sich hin. „Mama sagt, das wäre eine Sekte, die sich hier trifft.“
„Nicht nur Mama sagt das. Mittlerweile ist Lesen und Schreiben das, was zu meiner Zeit Haschkonsum war. Viele tun es, aber es ist nicht legal. Es begann vor etwa zwanzig Jahren. Den Verlegern gingen erst die Floskeln und ihren Lektoren dann die Standartbriefe aus. Den Autoren gingen daraufhin die Ideen aus. In einer landesbreiten Protestaktion schnitten sie sich reihenweise den rechten Zeigefinger ab. Wie van Gogh sein Ohr.“
„Fann wer?“
Der Vater schüttelt den Kopf. „Schon gut. Auch das führt jetzt zu weit.“
„Und dann?“, bohrt der Sohn.
„Viele andere Gewerke waren davon betroffen. Zuerst die Schreiner, weil die Verlage nun auch keine Schubladen für ihre Genres mehr brauchten.“ Der Vater weiß, dass sein Sohn mit dem überholten Wortschatz des frühen 21. Jahrhunderts nichts anfangen kann. Die wenigen Momente, in denen er sich nicht an 3.0 halten muss, will er allerdings rücksichtslos auskosten. „Den Todesstoß versetzte ein Philosoph der ganzen Branche. Gerade als er verbreitete, die Realität habe längst jeden Krimiplot überholt, schrieben die meisten von uns Krimis. Manche Autoren gaben sich sogar schwedische Namen, um ihr Buch besser zu verkaufen. Die Szene war riesig und erfolgreich. Trotzdem folgten wir aus Angst vor ausbleibenden Buchverträgen wie die Lemminge dem Szenario. Das ganze Land, damals eine mit Wohlstand gefüllte Fettblase, wurde von geschürten Ängsten gepiesackt und platzte schließlich. Die freigesetzten Radikale formierten sich sogleich zu Parteien und Gremien. Als erstes wurde ein Verbot entwickelt, das Lesen, Schreiben und damit das Verlegen auf die Schwarze Liste setzte.“
Der Vater hält inne in seinem Vortrag. „Das glaube ich jetzt nicht!“
Mit zitternder Hand berührt er einen Glaskasten, unter dem ein Buch liegt. Plötzlich füllt ohrenbetäubender Lärm den Saal. Vater und Sohn knien als Einzige am Boden und pressen ihre Arme an den Kopf, wie es die neue Alarmverordnung vorschreibt. Wenige Sekunden später ist der Spuk vorbei. Ungläubig schaut sich der Vater um. Eine Frau, deren Sakko von versteckten Büchern aufgebläht ist, tippt ihm vertraulich auf die Schulter. „Das passiert hier alle paar Minuten. Dass noch ein Exemplar von Orwells 1984 existiert, glaubt man wohl erst, wenn man es berührt hat.“ Kichernd verschwindet sie im Getümmel.
„Wir sollten gehen“, sagt der Vater und zieht seinen Sohn am Ärmel zum Ausgang.
Er sieht das herannahende Taxi und hebt den Arm. „Hash…“ Er verstummt.
Der Fahrer schaut ihn mit großen Augen an und sagt ungeduldig: „Hashtag Ziel! Hashtag Nicht Lustig!“
Der Vater lässt seinen Sohn einsteigen und setzt sich schweigend neben ihn.
Jetzt brüllt der Fahrer. „Hashtag Zeitmangel!“
Der Vater lehnt sich entspannt zurück. Der hundertste Alarm an diesem Tag ist ebenso ignoriert worden wie die 99 zuvor. Er zieht den Orwell aus der Innentasche seines Sakkos und blättert darin. Im Rückspiegel begegnet ihm eine steile Stirnfalte über böse blickenden Augen. „Lassen Sie mich kurz überlegen…“, der Vater senkt den Blick und blättert lächelnd in dem Buch, „und nun fahren Sie uns…“, die Stirnfalte des Fahrers füllt sich mit kaltem Schweiß, sein Blick changiert von böse zu angsterfüllt, wie immer, wenn irgendwo die Dudensprache ertönt, „bitte in die Straße der Ölsardinen.“ Und das Lächeln in seinem Gesicht ähnelt einem IKS-Haken.
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Rückblick auf 2016 – Das war die 3. Buch Berlin im November 2016 mit einer auffällig hohen Konzentration an Teddybären 😉