Ich werde Nichtwähler

Nichtwählen ist für mich die neue Religion, der einzige Weg an der Urne vorbei zum ewigen Leben im bundesdeutschen Nirwana.

Außerdem stehe ich somit als Proband im Mittelpunkt zweier Studien, die der Bertelsmänner fanden heraus, dass Typen wie ich einfach nur gleichgültig sind, aber nicht gerade eine Revolution planen; die Friedrich-Eberts hingegen stellten fest, dass unsereins unzufrieden ist. Beides ist so interessant wie der Besuch unseres Innenministers in den USA, hat aber bestimmt genauso viel gekostet.

Nur ist das damit so eine Sache. Das Nichtwählen muss gelernt sein wie ein Handwerk – von der Pike auf. Ich habe zwar noch bis zum 22. September Zeit, aber irgendwie rennt mir diese auch gerade davon, also gilt es, mit kleinen Übungen zu beginnen.

Das tat ich dann auch heute Morgen beim Bäcker. Auf die Frage der Bäckersfrau, ob ich denn nun endlich gewählt hätte, folgte mein „Nein!“ mit einer Entschiedenheit, die ich zuletzt bei meiner Wahl zur SPD-Ortsvereinsvorsitzenden Altlandsberg an den Tag gelegt hatte, während unser Kanzlerkandidat bereits ungefragt sein zukünftiges Gehalt diskutierte. Allerdings hieß meine Antwort damals „Ja“, ich war jung und brauchte das Geld.

Hinter mir war die Schlange auf um die zehn und gefühlte fünfzig Leute angewachsen, was mir ein süffisantes Lächeln ins Gesicht zauberte, kam ich mir doch vor wie an meinem eigenen Fähnchen-Stand mitten im Wahlkampf. Wir sind in Berlin-Lichtenberg, und selbstredend stand hinter mir ein sorgfältig zur Glatze geföhnter Typ mit „Spirit 69“-T-Shirt, dem ich gerne gesagt, dass er viel jünger aussieht als 44 und ein „Spirit of Kasimir“-Abonnement aufs stahlblaue Auge gedrückt hätte. Doch irgendetwas an seinem Blick hielt mich davon ab, sodass ich beflissen „zwei Kameruner, drei Negerküsse und fünf Amerikaner“ verlangte, woraufhin er mir großzügig noch „zwei Berliner“ spendierte.

Ich lungerte noch ein bisschen mit meinem „Coffee to go – auch zum Mitnehmen“ in der Ecke meines selbstgewählten Nichtwahl-Lokales herum, während sich der Junge mit Jagdwurstbrötchen vollhaute, um für den Aufmarsch gegen die neue Notunterkunft für asylsuchende Menschen in Berlin-Hellersdorf gestärkt zu sein. Bei 1162 registrierten Flüchtlingen in Lichtenberg leistet man schon gerne mal Nachbarschaftshilfe in Hellersdorf mit seinen 150, erster Schritt: das Anlegen flüchtlingssicherer Parkplätze.

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Auch den Sommer muss ich nicht mehr wählen, der macht ja schon nicht mal mehr Wahlkampf. In der Vergangenheit mit einer Wahlbeteiligung von 98% immer wieder gewählt, hat er kaum eines seiner Versprechen gehalten und lässt sich nun vollends gehen. Kein bisschen Entspannung in der Stadt, wie es früher mal war…

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Im Gegenteil: Auf meinem morgendlichen Weg von der S-Bahn ins Büro teilt sich vor mir ein Meer aus Fahrrädern, die Geräusche machen wie ein ganzes Feld aus Mähdreschern. Anzugmänner und Mütter mit behelmten Kindern auf dem Fahrradsitz fahren bei Rot über die Kreuzung vor dem Friedrichstadtpalast und verteilen sich auf die umliegenden Kitas, Ministerien und das FDP-Büro, vor dem espressoschlürfend die politischen Jungstars lungern, seit es hieß, Brüderle sei schwer gestürzt, mit Furchenvermehrung auf der Stirn. (Bin mir ziemlich sicher, dass Brüderle nach der Zuckmayer-Aufführung „Der fröhliche Weinberg“ eben jenen erklimmen wollte und nur der polsternde Stapel „Penthouse“-Hefte unter seinem Arm Schlimmeres verhinderte.)

Ein Radfahrer schreit einen Taxifahrer an, beide in ihrer jeweiligen Muttersprache, und es ist nicht herauszuhören, wer wessen Kotflügel beschädigt hat, aber das Wort Kot fällt in seiner populären Sprachform mehrfach und dann doch auf Deutsch.

Weil Obama uns besucht, ist die halbe Stadt gesperrt, während seine Töchter Ampelmännchen kaufen und ihre Bodyguards darauf achten, dass immer Grün ist. Währenddessen spielt Snowden in Scheremetewo Russisch Roulette, und ich habe noch nicht mal die Wahl, meinen Blog als Spionagematerial freizugeben oder nicht. Sollte ich demnächst wieder den inflationär geäußerten Kommentar: „In der DDR war auch nicht alles schlecht“ vernehmen, werde ich mich dem ebenfalls im Gegensatz zu meiner früheren Gewohnheit mit einem herzhaften „Richtig!“ anschließen, „die Schwarzweißfotos zum Beispiel waren rattenscharf!“.

Genau die nämlich, die ich bei meinem etwas längeren Aufenthalt in der BStU… http://www.bstu.bund.de/DE/Home/home_node.html

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… in meiner Familienchronik sehen durfte: Papa holt mich aus dem Kindergarten ab – und meine fliegenden Zöpfe sind neben seinem sorgsam kotelettierten Kopf buchstäblich haargenau zu erkennen, obwohl wir über die Straße rennen. Dagegen ist jede gestellte Aufnahme aus dem Familienalbum von 1971 ein unscharfes Paparazzifoto. Das Volk fühlt mit Snowden, unser Innenminister fliegt ungeladen in die USA und wird im Vorzimmer des Vorzimmers des so jungfräulich Weißen Hauses mit Donuts abgespeist. Was sich in einem der zwei Deutschländer aber vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten abspielte und noch ohne Mobilnetz und doppelten „Biden“ funktionierte, wird verdrängt wie Alzheimers Opa ins Pflegeheim. (Sollte hier morgen nichts mehr zu sehen sein außer zusammenhangsloser Bilder wurde dieser Beitrag wegen wiederholt verwendeter verfassungsfeindlicher Ironie gesperrt.)

Beim Reitturnier in Luthmühlen verunglückte ein Pferd tödlich. Sein Name: „P´tite Bombe“. Es war wohl schon länger über seine Emailkontakte bespitzelt worden.

Und auch wenn er ausgeleiert ist wie eine KIK-Unterhose nach zweifachem Tragen: Brecht hat den Wahlspruch für 2013 geschaffen, als er fragte: „Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ Dabei sei nicht zu vergessen, dass auch Steinbrück, Merkel und Co zum Volk gehören. Ich gehe davon aus, dass sie wahlberechtigt sind und werde ganz einfach versuchen, sie als Nichtwähler zu gewinnen.

Einen brauchbaren Vorteil mein Nichtwählen: Ich gewinne Zeit. Die kann ich anderweitig einsetzen. Auf freier Wildbahn warten Millionen Tierarten darauf, entdeckt zu werden. Auf einem bis zu 90 Meter hohen Baum auf Borneo kann ich bis zu 40.000 Insekten sammeln, und viele davon sind unbekannt. Ich fang schon mal an. Manchmal ist einfach schön, eine Wahl zu haben.

Wir sehen uns zur Wahl, so oder so, Ihr und Euer

Spirit of Kasimir

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