Das ist doch glatt zum Auswandern

 

Der Spirit of Kasimir auf dem Weg nach Aachen zur Einkaufsbörse einer großen Buchhandelskette: Binnen Minuten schien  sich der  Chaos-Computer-Club zu seiner Jahreshauptversammlung ausgerechnet in meinem Zugabteil zu versammeln. Jedenfalls  begann ein Run auf die Steckdose an meinem Tisch (und es zeigte sich mal wieder, dass diese Fraktion nix mit Elternzeitdiskussion am Hut hat und Kindersicherung für ein Verhütungsmittel hält), Zehnfachverteilerdosen wurden eiligst aus ihrer Mediamarktverschweißung gerissen, Kabeltrommeln in der Mitte des Ganges entrollt und sogleich eine mir schier unbegreifliche Zahl an Laptops zum Auftanken angeschlossen. Ein kompletter Stromausfall war die Folge, beim Halt in Bielefeld warf das dort eilig erbaute Wasserkraftwerk sein Notaggregat an, doch es war nicht zu übersehen: Alles, was uns umgab, lag im Dunkeln. Nur das kurze Aufflackern des Feuerzeugs zweier Hippies, die sich draußen am Bahnsteig eine gemeinsame Zigarette anzündeten, brachte kurz etwas wie einen menschlichen Schein auf die Gesichter um mich herum. Ich schloss die Augen und driftete hinein in  meine Gedanken zum neuen Jahr und stellte mir vor, dass…

  • ich auswandern wollte, zum Flughafen „Börlin-Brändenburg-Ährport“ (Originalansage an der S-Bahnstation Berlin-Ostkreuz) fuhr, und keiner mich ausflog…
  • Angela Merkel ihren Verdienst mit 75% versteuerte, nur damit Peer Steinbrück endlich von dem astreinen Demokraten Wladimir Putin zum Russen gemacht wurde und sie in Ruhe die Bundestagswahl gewinnen konnte…

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© Patricia Kasimir

Hier war die Welt noch in Ordnung: der beliebte SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück (li.) in Zweisamkeit mit dem BER-Verantworter Ministerpräsident Platzeck  

 

  • Helmut Berger Dschungelkönig wurde…
  • Phillip Rösler nach der Niedersachsenwahl Betreuungsgeld bekam und zu Hause bleiben durfte…
  • die deutsch-französische Freundschaft im afrikanischen Mali verteidigt wurde…
  • Thomas Gottschalk seinen Wettkandidaten Samuel Koch nicht über große Limousinen, sondern über Smarts springen ließ…
  • Bettina Wulff Spielerfrau wurde und Rafael van der Vaart der erste holländische Bundespräsident (was  endlich die Prophezeiung aus Hape Kerkelings Königin-Beatrix-Sketch erfüllte)…
  • Wolfgang Thierse Stuttgart 22 wurde…

… und ich ihm als Parteispende ein Buch zukommen ließ:

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Karl-Heinz Göttert / Alles außer Hochdeutsch List TB

Ich erwachte von einem sagenhaften Schmerz, den zwei Eisennägel verursachten, die mir in die Füße getrieben wurden. Im letzten Moment einen Schrei unterdrückend, öffnete ich sämtliche Sinnesorgane, die auch sofort bedient wurden. Ich vernahm ein hingerotztes „´tschuldjung“, saß in einem Schwall der frisch rabattierten und entsprechend großzügig aufgetragenen Douglasmarke „Moschusochse trifft Frühlingszwiebel“, zog meine Füße unter dem tonnenschweren Samsonite-Hartschalenkoffer meines Gegenübers hervor, schmeckte Zahnblut, das bezeugte, dass ich zähneknirschend geträumt haben musste und erwischte den gehetzten Blick einer Dame, die irgendwo zwischen der Midlifecrisis ihres Mannes und der eigenen Menopause und momentan vor allem am Telefon hing:

„Kriesch´ sch Plagg!“ (Das hieß wohl so viel wie: Wenn Du so mit mir redest, bekomme ich Zahnbelag!)

„Hatt dat Jürgen mich nich jesacht! Hatta mich wirklich nich jesacht, datt ich üba Bochum soll! Watt soll ich denn in Bochum? Nur weil da dat Hild´sche wohnt, ich bin doch nich dat Pfleger von´s Hildsche! Jib dat Jürgen lieber mal die Bohrers wieda, da hatta watt zu tun, statt so Blödfuch zu reden, isch soll mich in Bochum um dat Hildsche kümmern!“

Ich konnte nicht anders als wieder abzudriften und erneut über die Welt nachzudenken, aus der ich nun umso mehr auswandern wollte…

  • in der auf dem viermal beinah eröffneten Flughafen Berlin-Brandenburg 50 (fünfzig!) Kilometer Kühlleitungen nicht isoliert wurden…
  • zeitgleich aber in derselben Stadt völlig unbemerkt ein 30 (dreißig!) Meter langer Tunnel in eine Bank gegraben werden konnte, um sie dann naturgemäß und stilecht auszurauben.

Das machte 50,3 Kilometer Ahnungslosigkeit innerhalb kürzester Zeit in einer Stadt, in der trotz Regierungssitz und demnächst BND ein buntes subversives Treiben zu herrschen schien. Zwischen 1961 und 1973 waren in Berlin um die vierzig Tunnel gegraben worden, durch die mindestens 254 Personen aus der DDR fliehen konnten. Ungezählte Kilometer an statischer Meisterleistung mit professioneller Entlüftungstechnik, von der die BER-Chefplaner noch nichts gehört hatten.

Was ist los mit Berlin? Nicht nur arm statt sexy, sondern auch noch dick und doof? Drum und dran? Drunter und drüber? Hätte man den Flughafen lieber nach Jungfernheide statt nach Schönefeld bauen sollen?

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© berlin-bildergalerie.de

Ich verspürte einen starken Drang nach Völkerwanderung, wobei ich das Volk gerne da gelassen hätte. Aber aus diesem Land ließ sich ja noch nicht mal richtig auswandern!

  • Sogar Siemens ließ einen im Stich – acht fest zugesagte ICEs konnten nun doch nicht geliefert werden, im Rahmen seines Kostensenkungsprogramms will Siemens jetzt aber eine Milliarde Euro einsparen, indem man künftig pünktlich liefert! Oha! (Und die Milliarde gleich als Umsatzplus verbucht, um die Aktie anzufeuern.)
  • Währenddessen wurde der Kölner Dom von einer U-Bahn-Linie erschüttert, die vor einiger Zeit schon das dortige Stadtarchiv zum Einsturz brachte. Was zwei Weltkriege nicht geschafft hatten, nahm nun also der Kölner Nahverkehr in die Hand.
  • Und nun kam auch noch das Flug-Verbot des Dreamliners, Boeings wichtigsten Flugzeugs, das praktisch nirgendwo auf der Welt mehr starten darf. Aber die Startbahn in Berlin war ja eh noch nicht fertig…

Mir gegenüber noch immer Telefonat. Gefühlte dreieinhalb Spielfilmstunden lang, nur dass keiner im Kino sitzen geblieben wäre, wir alle aber zum Sitzenbleiben verdammt waren. Der Hartschalenkoffer stand mitten im Weg, und ich war bis hundert gekommen beim Zählen der Leute, deren Warteschlange sich mittlerweile bis ins Bordbistro rückstaute.

„RAUS!“, hörte ich plötzlich.

`Hä?` war der einhellige Gesichtsausdruck aller Anwesenden.

„RAUS! ´sch muss raus! ´sch muss doch nach…“

Die Dame schien völlig der Überblick verloren zu haben, kramte ihr Ticket hervor und hielt es dem Nächstbesten – mir! – unter die Nase. Rinnsale aus Schweiß verschwanden unter den vier Goldkettchen, die den Rundhalsausschnitt ihres Synthetikpullovers füllten und lösten dort eine „Moschusochse trifft-Frühlingszwiebel“-Schweißrevolte aus.

„Winntrup!“, brüllte sie nun, „da muss isch raus!“

Auf ihrem Ticket konnte ich allerdings nur Finnentrop lesen, von Winntrup keine Spur.

„Finnentrop?“, fragte ich sicherheitshalber.

„Sach isch doch! Winntrup!“

„Okay…“, pflichtete ich ihr vorsichtig bei, denn sie hatte jetzt den Blick einer Handgranate, die gleich zu explodieren drohte.

„Hagen. Sie müssen bis Hagen“, das „fahren“ ließ ich lieber gleich weg, denn in ihrer Sprache schien so etwas wie ein Prädikatsverband nur eine marginale Rolle zu spielen.

„Watt will´sch´n in Hagen?“

Plötzlich war es für sie ganz selbstverständlich, dass ich hier die Rolle der DB-Hotline übernahm. Die eigentlich dafür vorgesehene Angestellte versteckte sich geschickt auf einem Sitz in der Nähe der Automatiktür und nickte mir aufmunternd zu.

„In Hagen wollen Sie umsteigen, und zwar in die Regionalbahn nach Siegen.“

Sie hob schon wieder ihren massiven Brustkorb an, und bevor sie auch noch „Watt will´sch´n in SIIIEEEGEN?“ lamentieren konnte, brüllte nun wiederum ich: „ABFAHRT IN HAGEN VIERZEHNUHRFÜNFZEHN, AUSSTIEG IN FINNENTROP FÜNFZEHNUHRSECHS!“

„Krisch´ sch Plagg!“, hörte ich nur noch und spürte, wie sie mir ihre Fahrkarte entriss.

Sodann schnappte sie Handtasche, Jacke, Schal, klingelndes Handy (sie ging sogar ran und hatte dat Jürgen dran),  Ditsch-Käsepizza-Tüte mit angebissener Pizza inliegend, Hartschalenkoffer, Mütze, Bild der Frau, SuperIllu und eine halbleere Apfelschorleflasche und robbte sich zur Tür, vor der sie noch geschlagene zwanzig Minuten würde warten müssen, weil sie mich nicht mal hatte ausreden lassen.

Erschöpft, einen DB-Ihr-Reiseplan-Your-Travel-Guide in der Hand drückte mich der Rückstoß der abdampfenden Matrone in den Sitz.

„Entweder die kam von der Kur oder die fährt zur Kur“, hörte ich nur einen lakonischen Kommentar hinter mir.

„Hoffen wir, sie fährt zur Kur“, sagten nun alle wie aus einem Mund.

 

Dann bleiben wir eben doch, wo wir sind, und Sie alle bleiben hoffentlich mit mir, bis zum nächsten Zug nach nirgendwo und Ihrem

Spirit of Kasimir

Ein Kommentar zu “Das ist doch glatt zum Auswandern

  1. Die Patricia ist preisverdaechtig. Wieder ein Meisterstueck. Weiter so.

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