Das alte Jahr verzieht sich wie ein Dieb, dabei hat es nicht nur genommen, sondern auch gegeben. Es lüpft den Hut, sagt „Pardon!“ und „Auf ein Neues!“. Dann ist es nur noch eine Qualmwolke, die sich schlanken Fußes aus dem Fenster windet.
Jahresrückblicke und Silvesterpartys stehen unter den Motti: „Stadt, Name Scheidungsservice“ (Radioeins Silvesterparty) und „Stundenhotel: Mach‘s mir von hinten!“ (Wischmeyer). Aber das Jahr 2022 hat nicht nur genommen (Zuversicht und Hoffnung, Frieden und ein gesundes Miteinander), sondern mir zumindest die Erkenntnis gegeben, dass nörgelt, wer immer nur wartet. Wartet, dass sich etwas bessert. Wartet, dass sich was tut.
Wir befassen uns mit dem Krieg in Europa, denken aber nur an die eigene Stromrechnung. Wir haben Rot-Grün und reden Schwarz-Weiß. Wir schätzen Meinungsfreiheit und canceln Widerworte. Wir hamstern, statt zu vögeln. Und bei alldem hoffen wir, dass sich die Welt zum Besseren wendet. Wie soll sie das machen, und… wer oder was ist sie, „die Welt“? Wir reden von ihr, als wäre sie der ungeliebte Nachbar, der sich die hundertste Tasse Mehl holt, obwohl er gar nicht backen kann.
Was ich „die Welt“ nenne, ist der Planet, und der scheißt schon lange auf uns (weil Stuhlgang eine außerordentlich befreiende Art der Selbstreinigung ist). Außerdem hat „die Welt“ ihre Naturgesetze, denen sich der Mensch nie vorgestellt hat, obwohl er Gast ist in ihrem Haus.
Die Welt – was auch immer wir dafür halten – schert sich nicht um unseren Ego-Aktivismus. Unsere Schlaffheit morgens vorm Badezimmerspiegel haben wir uns selbst zu verdanken. Das eigene Spiegelbild bietet keinen Photoshop. Shoppen kann ich hier nur den Blick in mein Gesicht, und das lächelt immer dann, wenn ich mir selbst noch in die Augen schauen kann.
Wäre das nicht ein irre guter Vorsatz für 2023, sich jeden Morgen selbst in die Augen schauen zu können?
Das Lächeln, das du bekommst, kannst du ohne Bildbearbeitung posten.
W-as steht an? • W-eihnachten und • W-ahlkampf wg. • W-ahlwiederholung.
Bis zum 12. Februar 2023 aber geht’s auf die Straße für: • W-ohnungslose und ihre Versorgung bei wg. Personalmangel geschlossenen Wärmestuben • W-ir im Weitlingkiez e.V. und Kulturbahnhof Friedrichsfelde e.V. • W-ahlkampf von Tür zu Tür und beim „Speed Dating“ mit Politikinteressierten • W-iedermal Lesung „Kaßbergen“, diesmal im Bürgerbüro unseres Abgeordneten im AGH Dirk Liebe (8.12. 19 Uhr Freienwalder Str. 31 13055 Berlin) • W-arm angezogen am Infostand Rede und Antwort stehen • W-ohnungsproblematik, Inflation und Energiepreissteigerungen mit Betroffenen analysieren und Beratung vermitteln
Ich freue mich auf Eure Unterstützung bei der • W-iederholung des Wahlkampfes unter neuen Zeichen als Kandidatin der SPD Friedrichsfelde/Weitlingkiez für das Abgeordnetenhaus Berlin,
Liebe Berliner Freunde, Freundinnen, Onkels, Tanten, Alle, …
Francis Mohr lädt zur Lesung mit Musik in der Böse Buben Bar in exzellenter musikalischer Begleitung des Berliner Musikers Gennadij Desatnik (Trio SCHO) aus seinem Neuling „Der Alligator“ (zwiebook, 2022), der u.a. auch in Berlin spielt. Moderieren werde ich meine Lieblingskollegen an meinem Lieblingsort.
Francis Mohr: Der Alligator
mit Gennadij Desatnik (Musik), Moderation: Patricia Holland Moritz
Sonntag, den 20. November 2022, 16 Uhr, „BöseBubenBar“, Berlin, Marienstraße 18
Eintritt: 10€.
Um auf der sicheren Seite zu sein, bestellt bitte vorab Karten und Plätze unter 030 – 27596909. Danke.
***
Der Alligator:
Im Mai 2020 ging eine bedeutende Ära des Moskauer Zoos zu Ende. Der hochgeschätzte und populäre Alligator Saturn stirbt mit stattlichen 84 Jahren in seinem Terrarium! Man nannte ihn auch Hitlers Alligator. Hier ist seine Geschichte. Wahrheit verschmilzt mit Mythos und Fiktion. Niedergeschrieben und gelesen von Francis Mohr. Es ist eine Reise vom Mississippi über New York, Berlin bis Moskau. Es ist die Chronik einer langen und anrührenden Gefangenschaft. Francis Mohr kommunizierte für die Lebensgeschichte Saturns eigens mit den Zoos in Leipzig, Berlin, Dresden und Moskau, was für sich schon eine Story wert ist.
„Unsere Welt und ihre führenden und rollenden Köpfe spiegelten sich in den grünen Augen des stolzen, unterworfenen Tieres. Eine überraschende und vielschichtige Erzählung, in der Saturn und all seine Bewunderer, Betreuer und Quälgeister zu Wort kommen. Unaufgeregt setzt Mohr die Worte, sie haben Kraft und Witz, man folgt der Geschichte gern.“
(Andreas Schwarze, Dresdner Neueste Nachrichten).
zwiebook, Dresden, 2022; Alligator-Zeichnung im Buch: Peter Busch (Leipzig)
Im Frühjahr hat der Sächsische Literaturrat ein Programm für Nachwuchsautorinnen und -autoren ins Leben gerufen. Die Hälfte der Zeit ist nun um. Der kreuzer hat bei den beiden Mentorinnen und ihren Mentees nachgefragt, wie es so läuft.
Mentoring ist en vogue, etliche Universitäten und Unternehmen bieten entsprechende Programme für Nachwuchskräfte an – selbst die Vogue wirbt dafür. Mentorinnen und Mentoren, die mitten im (Berufs-) Leben stehen, begleiten ihre oder ihren Mentee ein Stück auf dem beruflichen Weg, stehen mit Erfahrungen und Rat zur Seite. Die Ursprünge dafür reichen tief, bis in die Welt der griechischen Mythologie: Schon Odysseus, wie Homer zu berichten weiß, gab seinen Sohn Telemachos in Obhut eines erfahrenen Mentors. Und auch der Sächsische Literaturrat hat in diesem Frühjahr ein Programm für Nachwuchsautorinnen und -autoren ins Leben gerufen (siehe www.kreuzer-leipzig.de, 5.3.2022). Nun ist die Halbzeit um – wie fällt die Bilanz aus? Der kreuzer hat mit den beiden Mentorinnen Martina Hefter und Patricia Holland Moritz sowie ihren Mentees Daria Pauke und Marlene Fleißig gesprochen.
Warum wird man Mentorin?
Die Schriftstellerin Patricia Holland Moritz, die nach vielen Krimiveröffentlichungen vor allem mit ihrem Karl-Marx-Stadt-Roman »Kaßbergen« (Aufbau 2021) bekannt geworden ist, bringt auch eine langjährige Erfahrung durch die Arbeit im Verlagswesen mit. Sie selbst habe noch nie das Schreiben unterrichtet, werde aber oft von Menschen angesprochen, die schreiben oder schreiben lernen wollen. »Hier einen brauchbaren Rat zu geben, ist mir oft ein Bedürfnis«, sagt sie. Es gehe darum, zu ermutigen oder auch zu bremsen. Und das sei auch ihre Motivation für das Mentoringprogramm. Die Dichterin und Performancekünstlerin Martina Hefter, die zuletzt mit ihrem dichten Band »In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen« (kookbooks, 2020) zwischen Essay, Lyrik und szenischem Schreiben die Kritik begeisterte, hat bereits häufig unterrichtet, ob am Deutschen Literaturinstitut Leipzig oder an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Reizvoll an diesem Programm fand sie die Zusammenarbeit mit nur einer Person, denn das bedeute eine große Konzentration, aber auch viele Gestaltungsmöglichkeiten: »Man kann ganz individuell auf die Wünsche und Bedürfnisse eingehen.« Ob eine solch enge Zusammenarbeit gut gelingt, liegt natürlich nicht nur an den Texten, sondern vor allem an der Chemie – und die scheint in diesen beiden Tandems zu stimmen. Die Mentorinnen hatten bei der Wahl ihrer Mentees ein gutes Händchen.
Austausch, Feedback und andere Schreibweisen
Patricia Holland Moritz entschied sich für Marlene Fleißig, eine Spanischübersetzerin, die bereits ihren ersten Roman vorgelegt hat – »Bestimmt schön im Sommer« (Hanserblau 2019). Ihr Ton sowie die Art, in wenigen Sätzen viel zu sagen, hätten sie auf Anhieb überzeugt. Für die junge Autorin und Übersetzerin ist das Mentoring ein absoluter Luxus: »So schön Schreiben und Übersetzen auch sind, ist es manchmal eine verflucht einsame Angelegenheit.« Der Austausch mit anderen sei immer ein ungemeiner Gewinn für den Text. Zweimal im Monat treffen sich die beiden im Videocall und sprechen über Fleißigs aktuelles Romanprojekt und über das Schreiben im Allgemeinen. Diese Termine seien total intensiv, sagt Fleißig und erzählt, wie Holland Moritz sie am Anfang gefragt habe, ob es sie stören würde, wenn sie bei ihren Treffen rauche. Ist doch deine Küche, dachte sie, doch mittlerweile komme sie sich so vor, als säßen sie in einem Raum.
Bei Martina Hefter und ihrer Mentee Daria Pauke, einer Design-Studentin, ergibt sich der Rhythmus der Treffen aus Paukes Schreibprozess. Aber mindestens einmal im Monat treffen sie sich digital oder live in Leipzig und sprechen über Paukes neue Gedichte, auch über Gelesenes, Gesehenes, Gehörtes, über die Tücken des Schreibprozesses und den Alltag als Schreibende. Bisher hat Pauke nur für sich geschrieben. Als Designerin sei sie Gestalterin fremder Ideen, aber sie wolle auch eigene zum Ausdruck bringen. Und das Schreiben, manchmal in Kombination mit Zeichnungen, ist ihr momentaner Weg. Diese Verschränkung von mehreren künstlerischen Perspektiven bei Pauke war einer der Gründe, warum Hefter sich für sie entschieden hat. Ihre Texte, mit einer sehr eigenen Stimme und großem Bilderreichtum, hätte sie handgeschrieben eingereicht, teils in kleine Heftchen gebunden und mit Zeichnungen kombiniert. »Das sowie ihre große Offenheit für die Lyrik, fand ich vielversprechend für die Zusammenarbeit«, berichtet Hefter. Demnächst bereiten sie eine Werkstattlesung vor, wo zum ersten Mal Paukes Texte zu hören sein werden.
Ist Schreiben etwas, das man lernen kann? Natürlich könne man es im gewissen Sinne lernen, sagt Hefter, es sei ein ganz anderes Lernen als zum Beispiel das Klavierspiel, aber ein ebenso langer Prozess. Aber nur gelernt, reiche nicht, ergänzt Holland Moritz: »Die Anlage, die innere Einstellung und ein größeres Interesse an der Welt als an sich selbst – ohne die geht es nicht.«
Fotos v.l.n.r.: Martina Hefter, Marlene Fleißig, Patricia Holland Moritz, Daria Pauke
Pfefferberg meets Kaßberg – let´s call it a BUCHPREMIERE!! Mehrfach verschoben, nun wird´s wahr.
Die taz spricht über „Kaßbergen“ von „später poetischer Gerechtigkeit für ein weiteres Kapitel vergessener deutscher Geschichte“ und der Kreuzer in Leipzig sieht: „… kein Wort zuviel, keine Erklärung, … und doch ist das Bild ganz klar. Man möchte jedem, der in den letzten 80 Jahren in Ostdeutschland geboren ist, dieses Buch ans Herz legen. Und all jenen, die dieses Glück nicht hatten, erst recht.“
Daher kommet zuhauf und lasst uns den Wiedereinstieg in die Kultur gemeinsam feiern am
Dienstag, 10. August 2021
20 Uhr im Pfefferbergtheater Schönhauser Allee Berlin
mit Musik von „Die Macht der Lieder – der macht die Lieder“- Jonny Götze
Aus Gründen bitte ich Euch, Tickets vorab zu reservieren auf dem Direktlink https://bit.ly/3iW1I3O
Fühle mich geborgen in der Lese-Umgebung der wunderbaren Autorinnen
Ines Burdow / „Sweetheart, es ist alle Tage Sturm“ am Montag, 9.8. und
In Irlands Kerry sah ich Kühe am ersten Frühlingstag nach monatelangem Verharren im Stall wieder raus auf die Weide sprinten. Diese Fleischkolosse tollten, jauchzten und schlugen aus wie die Bäume im Mai. Dieses Bild kommt mir in den Sinn, wenn ich an den heutigen Tag 1 nach der Dunkelheit denke.
Die Gastronomie baut zumindest draußen wieder ihre Bühnen auf. Im Gegensatz zur flinken Schwester Gastro jedoch können Kunst und Kultur nicht einfach den Rollladen hochziehen, ein Fass anschließen, die Kellner aus ihren Kurierjobs für GORILLAS & Co. zurückholen, Aschenbecher aufstellen, Registrierkasse und Ipod einstöpseln und loslegen. Der Vorlauf im Tournee-Booking ist länger, sechs bis neun Monate. Wie plant man den Tag X?
Über Künstlerinnen und Künstler in der Pandemie haben wir viel gehört, ob sie sich nun mit #allesdichtmachen in Fatalismus übten oder anderweitig online performten. Was aber ist aus ihren Bookern und Agenten geworden? Aus denen, deren Chance, die Miete zu zahlen, vom Break Even der Eintrittsgelder abhing? „Live bedeutete Geld“, sagt einer jener Geister, die hinter den Kulissen der Party agieren und immer erst Feierabend haben, wenn auch der Letzte aus dem Backstage wankt und ins Hotelbett fällt.
Zu Besuch bei Thomas Franke, Booker, Labelchef und Musikverleger im Jahr 2 der Pandemie, Monat 7 des Lockdowns der Kultur. „Und zum ersten Mal im Leben auf ALG II angewiesen, dank erleichterten Zugangs, hélas, in anderen Ländern gibt’s kein Geld für keine Arbeit, hier schon. Nur dass für uns Berufsverbot herrscht und wir als Zahlungsempfänger Bittsteller sind“, ist sein Resümee, und dass ein Unternehmerlohn den Umständen entsprechend besser gewesen wäre. (Notiz für´s nächste Mal.)
Auf unserem Weg zum Gleisdreieck stehen verzagt ein paar Tischlein mit zwei, drei Stühlchen vor Espressobars und Lieferdiensten. Manch Grüppchen kräuselt sich dort für 5 Minuten bei Sitzbier statt Fußpils um den Tisch, gerade kurz genug, um nicht als Kneipe aufzufallen, und zieht dann weiter wie die Rauchkringel meiner Zigarette im sanften Frühlingswind. Im Gleisdreieck dann der schüchterne Versuch eines Open Airs.
Vorgeschmack auf den Sommer. Und wir sind beim Thema: Kultur ins Grundgesetz.
Lange wurde dieses Gesetz, das dieser Tage 72 Jahre alt wird, nicht mehr so diskutiert und durchdekliniert wie seit Beginn der Schließungen. Vorrangig hinsichtlich Demos, Reisen, freier Fahrt für freie Bürger wohin auch immer sie wollen. Wenigen fiel auf, dass Kultur darin nicht als schützenswerte Spezies verankert ist. Fühlt sich ja auch nicht so lebensnotwendig an wie die Sause auf Malle oder im Stadion, sondern erinnert an verstaubten „Faust“ auf plüschigen Bühnen. Dass die Pandemie das Brennglas auf die Gesellschaft und all ihre Bereiche hält, ist bekannte Metapher. Für den Bereich Kultur kam ein besonders starkes zum Einsatz, das verbrannte Erde hinterlässt. Einen „Totentanz“ nennt Thomas Franke das, was uns auf dem Kulturacker nach dem Lockdown erwarten könnte. „Im IFO-Bericht wird Kultur als Wirtschaftszweig nicht mal erwähnt.“
Tatsächlich. In dem Diagramm besonders von Corona betroffener Wirtschaftszweige 2020, diesen Stalagmiten der Leidensfähigkeit, entdecke ich alles außer jener Branche, die allein die Stadt Berlin seit 1990 zu den weltweiten Top-Städten machte und entgegen aller Bemühungen nicht totgespart werden konnte. „Die Veranstaltungswirtschaft ist der sechstgrößte Wirtschaftszweig Deutschlands mit 130 Milliarden Euro Umsatz und über einer Million Beschäftigten. Wahrscheinlich hat der Platz einfach nicht gereicht für den Balken in der Grafik.“
Was macht sie aus, diese Kultur, dass ihre Belange ins Grundgesetz gehören?
Erst einmal ist sie der Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält und von deren Schwester „Clubkultur“ ein Clubchef sagt: „Vielleicht nicht systemrelevant. In jedem Fall aber freuderelevant.“ Kulturmenschen ermöglichen uns alles von Jugend musiziert bis Re:publica, Banksy bis Leipziger Schule, Csardasfürstin bis Der Bau, Sting bis Trollkotze, O2 Arena bis Loophole; sind soloselbständige Gesangslehrerin und Garderobenmann. „Sind Bandbooker, Roadies und Soundtechniker. Viele haben die Jobs gewechselt. Es gab Suizide. Depressionen. Andere haben die Stadt gen Land verlassen und eventuell keinen Bock, wiederzukommen“, sagt Thomas Franke, während wir am „Viktoriafall“ runter in die Großbeerenstraße blicken. Ein Bild wie im Paris der Haussmannschen Boulevards.
Thomas bucht nationale und internationale Bands, nimmt meistens die mit handgemachter Musik, findet sie auf Festivals und Musikmessen hierzulande und in aller Welt und lebt jetzt in seinem Homeoffice aus Plattenlager und Schreibstube „irgendwo zwischen Verwahrlosung und Feinoptimierung“.
November- und Dezemberhilfe? Negativ! Er betreibe schließlich einen „Mischbetrieb“ laut Bundesministeriums für Wirtschaft. Hatte mit seinem Musikverlag, Label und Booking Agentur „nur“ 70% Ausfall anzumelden, erst ab 80% griff die Hilfe. Zu Beginn von Corona blieben die CD & LP Bestellungen konstant, inzwischen sei es relativ ruhig geworden. Durch die fehlenden Tourneen ging auch die Aufmerksamkeit in den Medien verloren, solange man sich im Nischen Universum rumtreibt und nicht auf den gängigen Radio- & Spotify-Playlisten rauf und runtergespielt wird. Der Kaufimpuls eines physischen Produkts ist nach einem Live-Gig mit am größten und hat entsprechende Umsätze generiert. Weltweit werden mindestens ca. 40.000 neue Songs pro Woche auf Spotify & Co veröffentlicht, die Digitalisierung fängt in einigen Musiksparten nicht mal ansatzweise den Rückgang beim CD & Vinyl Verkauf auf.
„Früher galten mehrere Standbeine in dieser Branche als dermaßen vernünftig, dass sie einem sogar von den eigenen Eltern nahegelegt wurden…“, sagt Thomas, wir schlurfen weiter, und manche unserer Sprüche schrammen knapp am Populismus vorbei.
„Die Clubs mussten als erste schließen und werden als letzte wieder aufmachen. In manchen Städten, wie kürzlich in Plauen, wird die Krise gleich mal genutzt, um Clubs platt zu machen, die einigen von CDU bis AfD sowieso ein Dorn im Auge waren. Jetzt bräuchte es ein Regierungsprogramm für die Kultur nach der Pandemie, aber in diesem so wichtigen Jahr 2021 sind die Entscheider erst mal im Wahlkampf. Wenn dann im Herbst alle Wahlen im Land vorbei sind, hat sich Corona vielleicht erledigt. Die Clubszene auf jeden Fall.“
Die Konzert-Arenen hingegen sind schon bis 2022 und darüber hinaus ausgebucht. Vor ihnen steht eine Bugwelle von Top Acts, die ihre Welttourneen verschieben mussten. Wichtig. Aber eben oft nur Mainstream ohne kreatives Ausprobieren, wie es auf den kleineren Bühnen möglich ist.
Kraken wie eventim & Co kaufen jetzt schon Agenturen und Festivals auf, nach bester Amazon-Manier. „Für die kleinere Liga braucht es weiterhin schlüssige und nachhaltige Förderprogramme, um den aus der Not entstandenen Trend der – technisch zum Teil ziemlich schlechten – Streamings zu einem elaborierten Hybrid-Modell für Konzerte und Festivals zu entwickeln. Das verlangt entsprechende Mittel für Equipment, Kameraleute, Ton und Schnitt.“
Im Jahr 2000 wurde Thomas Franke zusätzlich vom Bandbooker zum Plattenboss. „Harms Way“, das einzigartige Album der australischen Formation Naked Raven war ein Rohdiamant, den er nicht in falsche Hände geben, sondern selbst zu Glanz schleifen wollte. Seinen Musikverlag für die Urheberrechte der Texter und Komponisten hatte er bereits, mit dem Plattenlabel war nun auch für den Vertrieb der physischen Produkte seiner Bands gesorgt. Bisher sind auf T3 Records um die 40 Alben erschienen, im Verlag First Contact Publishing um die 500 Songs. Das bis unter die Decke pralle Warenlager füllt eine Wand in Frankes Altbau Home Office, und die meisten der Alben gibt es auch auf Vinyl.
„Musikalisch gehe ich den eher schwierigen Weg. Mag halt nicht nur eine Farbe. Instrumentaljazz, Gitarrenakustik treffen auf Shoegaze und den bläserlastigen Sound von FrolleinSmilla, also nie nur Mainstream, nix Schlager oder sogenanntes ‚Vielversprechendes‘. Auf jede meiner Bands bin ich aus Neugier gestoßen. Und jede meiner Bands kam mit eigener Geschichte zu mir.“
v.l.n.r.: Naked Raven, Hugo Race, Frollein Smilla, unten: Tim McMillan
Und sie schreiben sie weiter, ihre Geschichten, doch noch fehlt das Ventil, sie wieder live hörbar zu machen. „Meine Bands haben durch fehlende Auftritte ihr Momentum verloren. Wenn alles wieder losgeht, müssen sie mit neuen Produkten ran.“
Hilfe zur Selbsthilfe ist die Devise der Kulturschaffenden in Krisenzeiten, das ist die fruchtbare Seite der Pandemie: #alarmstuferot hat ihrem Aufschrei Gehör verschafft. Über die eigene Bedarfsliste hinaus engagieren sich Künstlerinnen und Künstler aber genauso für jene, denen es außerhalb der eigenen Leidensgrenze noch sehr viel schlechter geht: Die „Tour d`Amour“ vereinte im März 2021 deutschlandweit Clubs, um die Menschen nach den Bränden in den Flüchtlingslagern Moria und Lipa in Bosnien-Herzegowina mit dem Nötigsten zu versorgen und die Bundesregierung aufzufordern, ihre Blockadehaltung gegen ihre Aufnahme aufzugeben. Brachliegende Clubs wurden aktiviert, um aus dem ganzen Land Spenden einzusammeln.
Eines von vielen Zeichen dafür, dass Kultur jene Brücken baut, zu denen die Entscheider im politischen Tagesgeschäft nicht willens oder nicht in der Lage sind. Und ein Grund mehr für die Verankerung der Kultur im Grundgesetz, damit nicht nur der innere Kitt, sondern auch der zu unseren Mitmenschen jenseits unserer Landesgrenzen stabil bleibt.
Ich danke Thomas Franke für Spaziergang, Kaffee und Cola statt Fußpils und das Gespräch, das wir ab heute im Biergarten weiterführen.
Internierungslager Nr. 5. Ketschendorf. Mai 1945 – Februar 1947
In Brandenburg galten schon gestern die Corona-Regeln, aber der Mann wollte unbedingt aufs Land zu einem Herrn Li aus China und dort zwei Laufräder AX Lightness Carbon abholen. Was will der Mann mit Laufrädern, dachte ich, wir haben keine so kleinen Kinder. Tatsächlich waren es Räder für´s Fahrrad Giant Advanced Carbon, die Herr Li ihm für 500 mitgeben würde, wo die doch mindestens 2000 wert wären. Wer in China der Diktatur und den Fledermausmärkten entflohen war, sollte doch in Deutschland nicht um 1500 Euro behunzt werden, dachte ich noch und sagte nichts, weil das immer besser war bei Sachen, von denen man (ich) schlichtweg keine Ahnung hatte.
Ich stieg aus dem Auto vor dem Haus des Herrn Li und schaute mich um, während der Mann nach oben zu seinem Laufräderdeal hastete. Weil ja nur eine Person eine andere aus einem Haushalt treffen durfte. Und soweit gehen der Mann und ich nicht, dass wir zusammenziehen, nur um Leute treffen zu können. Wartete ich halt auf der Straße. In fremden Gegenden konnte das interessant sein, und ich rauche ja gern und wars gewöhnt, auch in der Kälte.
In dieser fremden Gegend gabs nichts für mich zu sehen. Herr Li wohnte zwischen Lidl und Polizei an einer Bundesstraße mit einer Fußgängerampel. Also machte ich nichts als rauchen und warten und hoffen, dass sich da oben hinter den Masken kein genuscheltes Fachgespräch abspielen und schon aufgrund zahlloser „Wie bitte?“-Wiederholungen ins Endlose ziehen würde.
Das Geschäft mit Herrn Li abgewickelt, kam der Mann glücklich wieder runter.
„Gleich auf der Treppe erledigt, Räder standen schon unten, Geld auf den Treppenabsatz gelegt und trotzdem noch erfahren, dass der junge Mann hier als Autoschrauber arbeitet, wer hätte das gedacht.“
Glücklich verstaute der Mann den sauber abgewickelten Deal auf dem Rücksitz, als mein Blick auf das Schild fiel. Immer und überall fällt mein Blick auf diese braunen Wegweiser mit beiger Schrift und Kriegsdenkmal, Soldatenfriedhof, Gedenkstätte oder Internierungslager drauf. So war ich im Sommer schon in den Seelower Höhen gelandet und in Eberswalde und vor Jahren in Halbe. Jedes Mal war das Wetter schön gewesen, hatte zum Flanieren eingeladen und das Grauen unter der Erde weniger grausam erscheinen lassen. Manchmal so wenig grausam, dass ich Hoffnung schöpfte, das Sterben sei den dort Verendeten leichter gefallen auf warmer Erde unter Vogelgezwitscher. Und nun das: Sonnabendnachmittag im jungen Januar, Finsternis, feuchte Kälte um Null, die in meine Turnschuhe kroch, weil ich die statt meiner Winterstiefel trug, denn im warmen Auto hattes ja nur Richtung Brandenburg und wieder zurück gehen sollen. Auf der Winterjacke kein Schal und an den Händen natürlich keine Handschuhe.
Murrend lief der Mann nebenher, der sich doch schon auf Sportschau und Mitnehmabendessen vom Türken gefreut hatte, das wir noch zusammen veranstalten wollten. In einer Stunde wären wir wieder im Warmen gewesen und das Wochenende noch vor der Nase. Nun aber bogen wir ein zum Platz des Gedenkens.
Wohnblöcke und davor eine wandernde Lichterkette in der Dunkelheit, die sich aus der Nähe als dekorierter Kinderwagen entpuppte. Garagen mit Brettertüren. Davor ein Kleinwagen mit einem drin aber ohne Licht. Eine Kreissäge schrie aus einem Reihenhaus. Mein Blick in die Fenster hängte sich an Deckenlampen und Flachbildschirmen auf, blieb an Menschen kleben, die am Herd hantierten.
Bei Ausschachtungsarbeiten für diese Idylle wurden hier in den 1950er Jahren Tausende Leichen freigelegt und auf 30 LKWs nach Halbe gebracht. Ohne Namen. Ohne Daten. Zu DDR-Zeiten weiter als „unbekannt“ geführt.
Ich las vor. Wir waren ja allein, von den wenigen Toten abgesehen, die sie für die Gedenkstätte dabehalten hatten. „500 Mädchen und Frauen. 6000 Männer (2000 Wlassowsoldaten, Ostarbeiter, Emigranten) kampierten auf nacktem Boden im Keller, auf der Treppe bis zum Dachboden“.
Wlassowsoldaten. Wieder so ein Wort, über das wir so viel wie über Stalin in der Schule gelernt hatten, nämlich gar nichts.
Der Mann und ich standen da, die nasse Kälte in den Knochen, die klammen Hände in den Taschen. Die Wiese wölbte sich in unheimlichen Hügeln, aber vielleicht bildete ich mir das nur ein. Nicht eingebildet habe ich mir die Kälte, dabei trug ich Schuhe und alles und Reißverschluss zu bis zum Kinn.
„Wisst ihr, wo unsere Toten liegen – im Wäldchen – unter den grauen Hügeln ruhen sie aus von allem Leid, ohne Sarg und ohne Kleid. Bald wird der Wind eure Gräber verwehn. Eure Namen in unserm Gedächtnis stehn“, las ich weiter, und der Verfasser stand da geschrieben als ebenso „unbekannt“ wie die Toten, denn auch von denen gab es keine Namen mehr, wo sie doch lebend schon namenlos gehalten wurden.
Ich zog den Mantel aus, legte ihn über den Arm. Feuchtkalter Wind kam auf. Keine fünf Minuten hielt ich die Kälte aus in all meinen Klamotten, die ich unterm Mantel trug.
„Lass uns gehen“, sagte der Mann, „bringt ja jetzt auch nichts mehr.“ Mir schon, dachte ich und merkte wieder, wie wichtig es war, das Innehalten nicht zu verlernen. Carbonrad hin. Laufrad her.
Der Beginn einer Rezension, die in einem Verriss verglüht. Rolf Hochhuth hatte lange vor seinem Sturm aufs Berliner Ensemble (Wunderbar: Jens Bisky in der SZ „Kein Sommer ohne Streit“) den „Tod eines Jägers“ über den Freitod Ernest Hemingways in Salzburg inszeniert.
Im Kessel Buntes der Verschwörungstheorien bastle ich mir meine eigene: Ernest Hemingway lebt als Ernst Hemmerer am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Der Titel von Rolf Hochhuths Monodrama gefällt ihm gut, der Verriss gefällt ihm weniger, wobei er ihm verdient scheint, schon wegen der Chuzpe des heißspornigen Hochhuths, ihm, Hemingway, den eigenen Tod vorwegzunehmen.
Rolf Hochhuth versucht, dem abenteuerlichen Leben Ernest Hemingways auf die Spur zu kommen. Jenes Mannes, für den nur jene Kriege wirklich stattgefunden haben, in denen er selbst an der Front war. Hemingway glaubt sich verfolgt und bedroht an jenem Morgen seines Freitodes, dem 2. Juli 1961.
Tatsächlich aber steht er, Hemingway, müde lächelnd auf seinem Balkon mit Blick auf die Volksbühne, eine Hand in der Leinenhosentasch‘, die andere am Henkel der Tasse mit schwarzem Kaffee, weil es noch zu früh für Stärkeres ist, wobei ihn nicht interessiert, was andere über ihn sagen und denken und erst recht nicht das, was seiner Gesundheit schädlich ist. Weiß er sich doch eh kurz vorm Freitod, nun aber wirklich, der schon so lange notiert und immer wieder verschoben ist im Kalender. Nur noch einen letzten Blick will er werfen auf die Virusmilitanten vor seiner Tür, wie sie aus Angst vor Augenherpes ihre Gesichtsmasken zu Armbinden machen mit buntbeflaggter Pyramide drauf.
Wie gern würde er ihnen drei selbst erlegte Nasenbären zu Füßen legen, wenn die Gicht im Finger am Abzug ihn nicht daran hindern würde. Die Population an Nasenbären in diesem Land ist tatsächlich beachtlich und – ein ihm zuwideres Wort – beängstigend angewachsen. Ein letztes Mal ungläubig sehen, wie sich das Volk von Dichtern und Denkern über einer Plage entzweit. Ein letztes Mal vom Babylon zum Alexanderplatz und von da weiter zum Reichstag flanieren. Nichts von dem, was er da sieht und hört hätte er je so erfinden können. Keiner, dem er da begegnet, taugt zum Protagonisten eines Romans. Für Gefangene ihrer eigenen Verblendung ist selbst seine Phantasie zu mager.
In diesem, ihm so fremden Land war schon Schlimmeres als ein Virus geleugnet worden, denkt Hemingway und hustet ab und weiß, dass nun Zeit für den Abschied ist und dafür, dem lärmenden Hochhuth in den Himmel zu folgen. Denn wo Realität die Phantasie überholt, wird Schreiben – und damit das ganze Leben in seiner Fülle – obsolet.
„Du brauchst doch keinen Arzt, um zu sterben! Und d i c h braucht auch niemand mehr… und er lachte und lockte mit dem Witz: Die Friedhöfe liegen voll mit Menschen, die für unentbehrlich galten! – Er geht, stellt die Flinte aufs Parkett, kniet mühelos und drückt sofort ab. Der sehr laute Schuß wirft ihn hinter die Sofalehne zurück.“
In Zeiten wie diesen gehen die Gedanken gern mal mit einem durch,
Hemingways Schreibmaschine / Finca Villa Vigia. Havanna
Letzter Wohnort von Ernest Hemingway: Finca Villa Vigia. Havanna
ZEIT Nr. 35/1977: Endlich uraufgeführt: „Tod eines Jägers“ bei den Salzburger Festspielen Sag O.K. zum K.o.! Männersachen: Was Hochhuth, Wicki und Jürgens mit dem toten Hemingway anstellten. Von Benjamin Henrichs
SÜDDEUTSCHE 30. Juli 2013: Kein Sommer in Berlin ohne Streit zwischen Rolf Hochhuth und Claus Peymann. Ersterer ist Dramatiker und Vermieter einer traditionsreichen Spielstätte, letzterer an ebendieser Intendant und Mieter. Derzeit ringen sie um die Aufführung eines Stückes im kommenden Sommer. Eine kleine Chronik. Von Jens Bisky
Neben Lockerungsskepsis und Herdenimmunität stieß mir letzte Woche das Ableben des Cheflektors von Suhrkamp traurig auf.
Raimund Fellingers Arbeit war vergleichbar mit der eines Hirnchirurgen: Keiner traut sich ran, aber gemacht werden muss sie. Denn seine Autoren waren keine aufstrebenden Ersteinreicher unverlangter Manuskripte, sondern Max Frisch, Uwe Johnson, Peter Handke und weitere dieses Kalibers, die mindestens so austeilen konnten, wie er einstecken.
Er habe „an allen Texten Stellen verändert“, sagte er einmal, er „sage nur nicht, wo“.
Bei meiner Lektüre der Nachrufe keimt die Hoffnung, die Berufung eines Berufes kehre irgendwann in unsere Wahrnehmung zurück. Wie von einem prähistorischen Relikt wird von ihr fabuliert, denn nur so lässt sie sich in der Vergangenheit archivieren und als vergangen betrachten.
Den Beruf des Lektors umgibt seit jeher eine Aura: Verlagshaus. Abendlicht verschwindet hinter den Dächern. Den Kopf unter seiner Schreibtischlampe sitzt der Lektor gebeugt über einem Stapel loser Blätter. Einen Bleistift in der Hand, den Radierer zwischen den Fingern der Linken drehend wie einen Handschmeichler.
Als ich vor 21 Jahren eintauchte in diesen See der Märchenfische, waberten Rauchschwaden durch die Gänge des Verlages. Kollege M. lektorierte Romane einer maritimen Reihe. Und weil sein Ketterauchen bei ihm zu Hause unerwünscht war, rauchte er die Kette im Verlag. Die U-Boot-Krieg-Autoren starben ihm nach und nach unterm Bleistiftstummel weg, also schrieb er ketterauchend ihre Romane selbst zu Ende. Vornehmlich nachts.
Dann kam das Rauchverbot, und Kollege M. drohte, nicht mehr ins Büro zu kommen, was die Seeschlachten wenig friedlich beendet hätte. Er schlug vor, ab sofort für alle Welt sichtbar im Mumienschlafsack auf dem Hof im Gartenstuhl zu lektorieren. Kollege M. durfte weiterrauchen, die See schlachtete weiter. Bei geschlossener Bürotür.
Als Kollege M. schließlich in Rente ging, wurden die Wände seiner Behausung vierfach getüncht. Heute noch liegt dort der Hauch einer Ahnung von Dunhill in der Luft, hat überlebt, wie auch seine Romane und er selbst.
Es gab sie, die zweibeinigen Gedächtnisse der Verlage, und es waren ihre Autoren, die ihnen Denkmäler setzten. So Christine Brückner („Wenn du geredet hättest, Desdemona“) meiner „Frau Jacobi“, die anders hieß, aber vom Herstellungsleiter in der freitäglichen Schnapsrunde so getauft wurde, jeder einen Weinbrand im Schwenker und bald auch im Kopp.
3.Juli 1975
„Liebe Frau J,
anliegend die Antwort… wobei ich mir gestatte, daran zu erinnern, daß Shakespeare im 13. Jahrhundert Kanonen schießen ließ und Goethes Fehler den stattlichen Band `Hier irrt Goethe‘ füllen. … Schade, daß mein Verleger nichts anderes zu dem Buch zu sagen hatte. Ein Strauß Levkojen[1] wäre nicht unangebracht gewesen….“
3. März 1985
„… wenn ich an Ullstein denke, denke ich nie an Geschäftspartner, sondern an Freunde. Danke! Grüße und: que le bon Dieu fasse le reste!“
Es sieht nur so aus, als wäre ich nach 5 Wochen Archivierung meiner Bücher-DNA erst beim B wie Brückner. Es gibt erstaunlich viele Autoren mit B. Und da rede ich gar nicht von Böll und Bukowski, sondern von Borchert, den Braschs, dem Braun und dem Byron.
Ich bin längst durch, hab mich nochmal ordentlich bei den beiden Z für Zweig, die da Arnold und Stefan heißen, festgelesen und dann das neue Regal bestellt. Denn von S wie Seghers bis zu den Zweigen lagen die auf Boden, die nirgendwo mehr Platz fanden: Und das hatten Silitoe, Tolstoi und Zwetajewa wahrlich noch nie erlebt. (Den Braun habe ich nebenbei sogar repariert. Das ist dem auch noch nie passiert.)
… Die Vernehmer glauben sich zu verhören / Im Knast agitiert er die Mönche / Als wüßten die nicht wo Gott wohnt / Die Folter verfängt nicht: er singt ein ´Tedeum / Wohin mit ihm? Die Hölle nimmt ihn nicht auf / Verbrennen wäre die Lösung, doch die ist nicht neu
Flugs im Worldwideweb Regale bestellt und das Mal-schnell-ins-Grüne-Vehikel zu einem Lieferwagen ausgeklappt, mit dem ich die Bretter, die mir die Welt bedeuten, samt Bastelbögen zu mir holte. Sehr glücklich über das Vorher- und das Nachher-Bild, die ich mir zur Bestätigung rahme.
Ihr merkt, es hört nicht auf, und das ist gut so beim Lesen und Leben in der Anderzeit.
Euer
Spirit of Kasimir
[1] Christine Brückner. Jauche und Levkojen. Werkausgabe Ullstein 1999
So ein Blog ist wie ein Goldfisch im Aquarium. Er steht dekorativ in der Welt, aber der Fisch darin will gefüttert werden.
Auch die Fische in meinem 240 l Aquarium Typ „Juwel“ wollen gefüttert werden. Dabei sind sie so dröge gegenüber allem, was um sie herum vorgeht, dass mir ihr Anblick YingYang in Fischform ist.
Im Aquarium ist die Welt noch in Ordnung – oder sie war es nie. Dort wird nicht gehamstert, sondern gefressen, was der Futterspender reinfallen lässt. Für meine Fische ist immer Sonntag, Homeoffice und kontaktfreie Nähe. Sie scheißen ohne Klopapier und teilen sich kein (mir) bekanntes Gen mit dem gemeinen Hamsterhamster. Den Rat, alle 8 Minuten etwas zu trinken, erfüllen sie sekündlich. Ich folge ihm auch, habe das von chinesischen Ärzten empfohlene Wasser jedoch mit Rotkäppchensekt ersetzt und grinse schon morgens um 10 schön debil vor mich hin. Gegenseitig anstecken tun sich meine Fische übrigens nur zum Spielen und Jagen.
Auch ein dekorativ in der Welt stehender Blog will gefüttert sein. Der vorletzte Eintrag ist von Silvester. Was haben wir uns da alle gewünscht? Die Intellektuellen den Weltfrieden, wir weniger hellen Kerzen am Leuchter, dass alles so weiter geht, eventuell besser wird, wir aber gesund bleiben. Hammer! Wie sorglos und routiniert dieser Wunsch auf jede Geburtstagskarte gepappt wird. An jede Standartgratulation am Telefon oder dem – damals möglichen – Händedruck oder gar Umarmung bei einer – damals möglichen – Feier.
Anfangs dachte ich noch, es genüge, das C-Wort zu vermeiden, um auch den biologischen Irrsinn zu vermeiden, der uns nun in Schach hält. Denn das Wort erwähnen heißt, es manifestieren, heißt, es kriegen. Das war mit der AfD genauso. Ihr PR-Team waren wir alle, die permanent das A-Wort in den Mund nahmen, und irgendwann hatten wir den Salat und die AfD in den Parlamenten.
Meine Fische zum Beispiel manifestieren permanent, dass sie Futter haben wollen. Ich sitze neben ihnen an meinem Schreibtisch, und mein nachdenkliches Kratzen am Ohr deuten sie als Aufbruch zum Futterautomat, um sich dort sogleich im Kreis zu versammeln. Es funktioniert. Ich kann sie nicht sich versammeln sehen und ihnen dann nichts geben. Tue ihnen den Gefallen, drücke aufs Knöpfchen, und das Futter rieselt.
Ich bin beim B. B wie Richard Brautigan. Ein Name wie Donnerhall, wenn man Forellenfischen mag und die Spektrum-Reihe, die von 1968 bis 1993 bei Volk und Welt erschien.
Dabei ist es seine „Rache des Rasens“*, die bisher verhindert hat, dass ich vom A meiner coronaischen Büchersortieraktion nur bis zum B gekommen bin. In unglaublichen 3 Wochen, in denen es galt, am eigenen Roman weiterzuschreiben, habe ich mich in denen anderer festgelesen.
Und keinen Moment bereut. Kurzfassung:
Großmutter ist Schnapsbrennerin und schüttet die übriggebliebene Maische an einen Birnbaum. Während sie im Keller fröhlich weiterbrennt, machen sich ihre Gänse über die Maische her. Betrunken steckt die eine den Kopf in die Maische und vergisst, ihn wieder herauszuziehen. Eine andere schnattert wie verrückt und versucht, auf einem Bein zu stehen und die W. C. Fields-Parodie eines Storchs zum Besten zu geben. Schließlich fallen alle um und liegen auf ihren Schwanzfedern. Großmutter findet sie vor und hält sie für tot. Pragmatische Frau rupft das Vieh und legt alle auf einen Haufen. Als der Protagonist mit seinem Cadillac in die Hofeinfahrt einbiegt, erwachen die Gänse, kommen ihm nackt entgegengetorkelt und glotzen ihn aus großen Augen an. Da hat er das Auto gegen die Hauswand gesetzt.
So kommen Beulen am Auto zustande, und ich hab‘s noch nirgendwo umwerfender gelesen. So kann ich nicht arbeiten.
Immer noch beim B verharrend,
Euer
Spirit of Kasimir
*Richard Brautigan. Die Rache des Rasens. Geschichten. Rowohlt 1993; Original: Revenge of the Lawn/Stories 1962-1970. Simon and Schuster, NYC 1971.